Es war eigentümlich, daß das Kind, dem jedermann freundlich begegnete, keinen so zu lieben schien wie seinen Vater, dem es nicht von der Seite wich, wenn er da war. Im Bewußtsein der unrühmlichen Rolle, die er auf dem Hofe spielte, ließ sich der Bauer selten blicken und war nicht zugänglich; nur mit dem Kinde schleppte er sich unermüdlich. Sein Gesicht war widerlich, vom Trunk entstellt, doch hatte er augenscheinlich feine Züge gehabt, und der Kleine mochte ihm gleichen; man konnte sich vorstellen, daß er durch sein hübsches Gesicht, weiches verliebtes Wesen und vielleicht eben durch seine Schwäche das starke Herz der Bäuerin gewonnen hatte. Jetzt schienen nur noch Furcht, Mißtrauen und Verachtung zwischen ihnen zu sein, wenn auch die Gewohnheit und das Mitleid, das Frau Gundel für ihn hatte, es ihnen nicht so schlimm, wie es war, zum Bewußtsein kommen ließen. Sehr verschlimmert wurde das Verhältnis durch die Mutter des Bauern, einer Frau mit blassen Augen und farblosem Gesicht, die immer ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden trug, so daß man ihre Haare nicht sah. Sie pflegte mehrere Male am Tage zur Kirche zu gehen, und Michael und Rose konnten sich ihrer Höflichkeit und Freundlichkeit kaum erwehren; alle, sogar ihr Sohn, auf den sie großen Einfluß hatte, suchten sie, wenn es möglich war, zu meiden. Sie war es hauptsächlich, die den Bauer gegen die Kinder seiner Frau aus erster Ehe aufhetzte; doch hätte Rose wohl nichts davon bemerkt, wenn die Bäuerin, die niemals log und nicht einmal übertrieb, es ihr nicht anvertraut hätte.
Jeden Abend, wenn die Sonne unterging, pflegte die Alte mit einem gedankenlosen Seufzer zu sagen: »Gottlob, wieder ein Tag hin«, und mit einem verstohlenen Seufzer wiederholten Michael und Rose: »Wieder ein Tag hin!« Die acht Tage, die Michael im Dorfe zu bleiben sich vorgenommen hatte, die sie wie eine selige Unendlichkeit vor sich gesehen hatten, waren plötzlich vorüber, wie ein tiefer glücklicher Atemzug verhaucht. Der letzte Tag war ein Sonntag, an dem nach uralter Sitte im Dorfe der Tanz um den Maibaum stattfand. Am Vorabend wurde unter großem Zulauf die hohe Stange aufgerichtet, die den Maibaum vorstellte; an ihrer Spitze war eine lange schmale Fahne von grüner Farbe befestigt. Michael und Rose saßen unter einer breiten Linde, die eben Blätter bekam und die von einem schmalen Holzbänkchen rund umgeben war, und sahen zu, wie das Königspaar, dem zu Ehren das Fest bereitet wird. Am folgenden Nachmittage nahm der Tanz seinen Anfang; unter der brennenden Mittagssonne kam ein Trupp Bauernburschen die Landstraße herauf, johlend und kreischend, voll Staub und Schweiß, von fiedelnder Musik begleitet. An ihren heiseren und unreinen Stimmen und ihrem stolpernden Gange merkte man, daß sie schon viel getrunken hatten; die versammelte Dorfbevölkerung jauchzte ihnen überlaut entgegen. Nun wurde ein Faß Bier herbeigerollt, aus dem unentgeltlich geschänkt wurde; Männer, Frauen und Kinder drängten sich gierig herzu, während die Burschen mit den erhitzten aufgeputzten Mädchen um den Maibaum stampften.
Michael und Rose hatten mit gepreßtem Herzen zugesehen: es war die letzte Stunde, die ihnen gehörte und die sie nicht allein miteinander hatten sein wollen. Rose stiegen die Tränen schwer in die Kehle; während sie sie niederdrückte, sah sie an der hohen Stange hinauf, von deren Spitze das lange grüne Band in die Luft flatterte wie ein Jubelfähnchen. »Es ist nicht alles schön auf der Erde«, sagte Michael und versuchte zu lächeln. Rose erwiderte nichts; sie gingen langsam nach Hause zurück, gespannt und gequält, von der wilden Tanzmusik unablässig verfolgt. Im Zimmer lehnte sich Rose an die getünchte Wand und preßte ihr Gesicht dagegen. »Das Leiden ist zu groß für das Glück«, sagte sie mit harter Stimme. »Sag das nicht, sag das nicht«, bat Michael, die Hände ringend, »nimm mir die einzige Hoffnung nicht. Sollten wir das Höchste begehren und das Schwerste nicht ertragen können?« Sie drehte sich langsam nach ihm um, sah ihn an und reichte ihm eine Hand, während sie mit der anderen winkte, daß er gehen möge; dann ging er schnell durch das heiße lärmende Dorf und die verlassenen Felder zum Bahnhof.
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In einem Garten des Dorfes hatte Michael oft ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren stehen sehen, das durch den Zaun nach dem Walde zu blickte. Es war braun und mager, und das dunkle Haar hing ihm in Strähnen um das Gesicht; mit dunklen Augen blickte es unentwegt über die Wiesen hin, die damals lachten und leuchteten vom Goldgelb der Blumen, zum Walde, der die Welt für sie abschloß. Es schlängelte sich ein bleicher, steiniger Weg durch die Wiesen in die Tannen hinein, auf dem zuweilen ein schwerer Wagen langsam vorüberächzte und morgens und abends der Briefbote in das Dorf kam, und wo an Sonntagen Herren und Damen in lichten Kleidern auf Rädern hinflogen, deren Plaudern und Lachen flüchtig wie Vogelgezwitscher ins Ohr klang. Das kleine Mädchen sah aus, als ob sie wartete, daß einmal etwas Wunderbares aus dem Walde herausträte und den blassen Wiesenpfad her auf sie zukäme; was mochte sie schon gesehen haben, wenn sie heimlich bei Nacht herausschlüpfte und der Mond dahin schien, wo der Tann sich öffnete?
Dies braune Kind erinnerte Michael jedesmal an Verena, so wenig es der hohen schlanken Dame mit der weißen durchsichtigen Gesichtsfarbe, dem mattblonden Haar und den vornehmen Gewändern ähnlich sein konnte. Es zog ihm das Herz zusammen, wenn er die Kleine sah, und einmal, als er mit Rose Hand in Hand über die Wiesen auf den Garten zukam, wo sie am Zaune stand, war es ihm, als sähen ihn ihre weitgeöffneten Augen schmerzhaft erwartend und vorwurfsvoll an, was ihn so quälte, daß er Mühe hatte, die Empfindung vor Rose zu verbergen.
Dennoch liebte er Verena nicht mehr; ja er konnte sich fast nicht vorstellen, daß er sie jemals liebgehabt hatte. Als sie einander das erstemal nach Michaels Abreise wiedersahen, fanden sie eine Kluft zwischen sich liegen, über die sie sich nicht die Hände reichen konnten; aber er hatte das vorausgesehen, während sie es ganz anders erwartet hatte. War sie auch ihm gegenüber nur die große Dame, kühl und überlegen, so hatte sie doch, solange er fort war, oft wie die braune Kleine am Gartentor gestanden und sehnsüchtig hinausgehorcht, ob er käme und sie liebhätte.
Ehe er noch ein Wort gesprochen hatte, erkannte sie an seinem Lächeln und seiner Haltung, wie er zu ihr stand, und ihre ganze Seele spannte sich darauf, viel kälter und fremder zu erscheinen, als er sein konnte. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen, das ihn zu verhöhnen schien, und suchte ihn dadurch zu kränken, daß sie den kleinen Mario mit dem Dienstmädchen spazierengehen ließ oder sonst von Michael entfernte, alles aber so, daß es mit der Gleichgültigkeit, die sie gegen ihn zur Schau trug, nicht in Widerspruch stand.
Als Michael fort war, sagte ihre stolze, hochfliegende Seele: Du sollst nicht weinen, du sollst nicht ohnmächtig klagen. Wenn er dich nicht mehr lieben kann, soll er doch sehen, daß du der Liebe wert wärest. Du sollst frei werden und den Kampf mit dem Schicksal auskämpfen; hat dich doch immer nach einer Krone gelüstet. Aber die andere Seele, die in ihr war, die feige, schwächliche, machte sich schwer und wollte sich von dem weichen Kissen, auf das sie sich geduckt hatte, nicht wegziehen lassen. Es hätte jetzt nichts mehr im Wege gestanden, daß Verena sich in der Malerei ausbilden ließe, was von jeher ihr Wunsch gewesen war, und sie erwog es auch häufig in Gedanken. Was sie zurückhielt, war hauptsächlich die Voraussicht, daß sie es niemals so weit bringen würde wie Rose. Ja, würdest du ihr auch gleichkommen oder sie übertreffen, sagte ihre feige Seele, würde er es doch nicht gelten lassen, und schon dem beständigen Vergleich sollst du dich nicht aussetzen. Ebenso fiel es ins Gewicht, daß sie die unverdrossene Anstrengung scheute; denn sie hatte niemals dauerhaft gearbeitet, und obwohl sie wußte, daß auch in der Kunst ohne strenge Arbeit nichts Großes erreicht wird, versuchte sie doch immer wieder auf Schleichwegen in das heilige Gebiet einzudringen und war stolz auf diese kleinen, geschickt hingeworfenen Malereien und Kunstfertigkeiten, die ihre Umgebung entzückten und ihr den Ruf der Genialität eintrugen.
Inzwischen, bis sie etwas anderes gefunden hätte, woran sie ihre Kraft erproben könnte, warf sie sich auf die Pflege der Geselligkeit, wobei ihr Schwager Raphael ihr zur Seite stand. Solange sie mit Michael