Hanussen - Hellseher und Scharlatan. Will Berthold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Will Berthold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711727171
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Direktor der Nationalbank und behauptete, er sei Hellseher und könne das Geld wieder beschaffen. Wir von der Polizei haben zuerst gelacht, aber der Direktor der Notenbank – sein Stuhl hat ja schon bedenklich gewackelt – griff nach dem Strohhalm, und der Ganeff konnte sein ganz großes Brimborium abziehen. Er ließ sich die Pläne des Gebäudes zeigen, unter dem sich ein weitverzweigtes Kanalsystem befindet. Hanussen spielte den Hypnotisierten, rannte durch das Haus, stürzte sich auf einen jungen Mann und schrie: »Sofort verhaften den Mann, er gehört zu den Dieben.« Und dann gab der ›Hellseher‹ genau die Stelle an, an der die Geldkisten vergraben waren. Er erhielt eine hohe Belohnung, wurde der Held des Tages – und wir waren die Deppen der Woche.«

      »Aber Sie wissen, wie er Sie aufs Kreuz gelegt hat?«

      »Wir sind rasch dahintergekommen«, erwidert Watzlawek, »daß Hanussen der Schwager des ›Tresor-Franzl‹ war. Der ist einer der schlimmsten Gangster von Wien mit unheimlichen Beziehungen zur Unterwelt – und leider auch heimlichen zu einigen Behörden. Er war die Schlüsselfigur des Falles: Da die Diebe nicht wußten, wie sie das Geld durch die polizeiliche Kontrollkette schleusen könnten, wandten sie sich an einen Hehler und dieser wiederum an den Tresor-Franzl, der sich die Lage des Geldverstecks genau beschreiben ließ. Der Tresor-Franzl wußte auch nicht, wie man das Diebesgut durch die Kontrolle bringt, wohl aber wie man dem Mann seiner Schwester zu einem tollen Auftritt verhelfen kann.«

      »Sie haben die Täter doch noch gefaßt?«

      »Und zwar die richtigen«, versetzt der Semmelblonde. »Nicht den von Hanussen angegebenen, der war völlig unschuldig. Doch die Täter hielten den Mund aus Angst vor dem Tresor-Franzl: So haben wir zwar den Fall geklärt, konnten aber den Schwindel bei der Geldauffindung nicht beweisen. Wir mußten Däumchen drehen und auf Rache sinnen.«

      »Darauf haben Sie dann lange warten müssen«, hilft Molitor nach.

      »Fünf Jahre«, entgegnet der Mann aus Wien. »Inzwischen war Hanussens Ruhm schon wieder ziemlich verblaßt. Er trat im ›Ronacher-Varieté‹ auf, war aber nicht der Star, der sogenannte Eisenkönig hatte ihm die Schau gestohlen, ein Artist namens Breitbart. Der Mann verbog Stahlschienen, sprengte Eisenketten und zeigte ähnliche Tricks. Das Publikum raste: es wollte den Eisenkönig sehen, und nicht Hanussen. Der ›Hellseher‹, krank vor Eifersucht, gab in den Wiener Zeitungen Inserate auf und bezeichnete seinen Rivalen als Hochstapler. Steinschneider kam vor Gericht, wurde wegen Verleumdung verurteilt und aus dem ›Ronacher‹ entlassen. Jetzt ging der Krieg erst richtig los: Hanussen trat im ›Apollo‹ auf, versetzte seine Assistentin Martha Farra in Hypnose: Das zierliche Mädchen führte nun alle Sensationen des Eisenathleten vor: Zuvor wurden Zuschauer auf die Bühne geholt, die sich überzeugten, daß es sich um echte Eisenschienen und Ketten handelte. Dann wurde das Licht der Scheinwerfer wieder auf das Publikum gerichtet, während vier Helfer die Gegenstände gegen Attrappen austauschten.« Watzlawek lacht, bis er nasse Augen bekommt. »Breitbart verführte diese Requisitenschieber zu einem Heurigen-Ausflug, setzte sie unter Alkohol, als sie voll waren wie Haubitzen, sperrte er sie ein – und im ›Apollo‹ blamierte sich Hanussen bis auf die Knochen, weil sein Medium die echten Eisenstücke keinen Zentimeter bewegen konnte. Er wurde ausgepfiffen, mußte türmen und sich verstecken. Die Leute verlangten ihr Eintrittsgeld zurück, und die Wiener Zeitungen fielen jetzt so über den zweifelhaften Magier her wie fünf Jahre zuvor über die Polizei. Nunmehr konnten wir den Kerl endlich aussischmeiß’n. Jetzt«, spöttelt das Milchgesicht, »haben wir einen Gauner weniger und ihr, ihr habt einen Patrioten mehr.«

      »Bitte nicht politisch werden, Herr Kollega«, entgegnet Molitpr. »Und lange wird sich Hanussen hier nicht mehr herumtreiben, darauf können Sie sich verlassen, und die – die patriotischen Hosen werden wir ihm dann schon Ausziehen.«

      Er gibt sich zuversichtlich, wiewohl er weiß, daß »der größte Hellseher aller Zeiten« längst nicht mehr mit Pappattrappen arbeitet. Tricks, die man sich nicht erklären kann, gelten in der Volksmeinung nun einmal als Wunder, und je ungläubiger der moderne Mensch wird, desto wundergläubiger gibt er sich auch.

      3

      »Einen Moment Geduld noch, meine Damen und Herren«, sagt Erik-Jan Hanussen im Kursaal von Teplitz-Schönau und hebt die Stimme: »Gleich wird es sich entscheiden, ob es mir gelingt, diesen Mord – der sie so bedrängt hat – zu klären.« Das Raunen der dichtgedrängten Zuschauer erstirbt unter seiner erhobenen Hand. »Bitte keine Vorschußlorbeeren. Wie gesagt: Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß das große Experiment dieses Abends gelingen wird. Aber ich darf doch in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, daß ich bisher einige Verbrechen aufklären konnte, bei denen die Ermittlungen der Polizei nicht weitergekommen sind.«

      Die Spannung steigert sich noch einmal. Im Saal herrscht Siedehitze. Der Mord am Gänsemarkt vor einer Woche erschütterte das kleine Städtchen, in dem Kapitalverbrechen äußerst selten sind. Und nun soll er geklärt werden – als Varieté-Coup. Noch wissen die Zuschauer nicht, ob sie zu Augenzeugen eines unerklärlichen Phänomens oder zu Narren eines abgefeimten Betrügers werden: Sie hören, sehen, stöhnen und staunen.

      »Es handelt sich – Sie wissen es längst – um den ermordeten Bäckermeister«, fährt der Hypnotiseur fort, als wüßten es nicht längst alle Zuschauer: »Sie kennen den Fall aus der Lokalpresse, und viele von Ihnen haben das Opfer persönlich gekannt. Es gibt eine Reihe von Verdächtigen, mindestens ein halbes Dutzend, aber sie alle haben ein Alibi, das sich nicht erschüttern ließ. Die Ermittlungen der Polizei drehen sich deshalb im Kreise: Zu viele Möglichkeiten und zu wenig Beweise.« Hanussen scheint über seine Körpergröße hinauszuwachsen, er geht in Positur. »Wie gesagt, ich will versuchen, die Lösung zu finden und Ihnen hier – in den nächsten Minuten zu eröffnen, was die Polizei nicht herausgefunden hat. Wenn das zutreffen sollte, werden Sie die Bestätigung morgen in der Zeitung lesen.« Er bricht ab, als fiele ihm jetzt das Sprechen schwer. »Ich bitte Sie nur noch um ein wenig Geduld für meine Vorbereitungen.« Sein Medium kauert reglos im Sessel.

      Hanussen redet Martha Farra II zu, streicht mit den flachen Händen über ihre Schläfen. Ihr Blick wird glasig, starr. Sie beginnt zu sprechen. Halblaut. Unverzüglich. Martha Farra ist in Trance. Silben addieren sich zu Worten. Worte ergeben einen Sinn, den nur der Hauptakteur auf der Bühne erfassen kann. Das Medium spricht stockend, leise, fast unhörbar.

      Hanussen nickt und fragt zurück.

      Auf einmal ist es, als übertrüge sich die Trance von dem Mädchen auf den Meister selbst. Fast gleichzeitig wird das Bühnenlicht gedämpft; der Stahl eines violetten Scheinwerfers huscht über das Gesicht des Hellsehers, bleibt auf ihm stehen. Die blasse Schminke und die lila Stahlen geben ihm etwas Unheimliches – er scheint nicht mehr von dieser Welt zu sein.

      Erschöpft richtet sich Hanussen wieder auf, sieht wie blind in den Kursaal. Sein schweißnasses Gesicht ist zerfurcht, die Haare hängen ihm wirr in die Stirne, als er die Worte seines Mediums aufnimmt und in Klartext überträgt: »Ich … ich sehe jetzt den Mörder vor mir«, gibt er wieder, was er durch übersinnliche Fähigkeiten zu erkennen scheint: »Ein junger Mann … ein kräftiger Bursche … sehr groß, nicht sehr ordentlich gekleidet … Ich sehe ihn jetzt ganz nahe. Der Mann wirkt gehetzt, er hat Angst, er wird vom schlechten Gewissen getrieben … Er läuft und läuft … scheinbar ziellos. Er jagt den Bahndamm entlang. Er hat doch ein Ziel; er bleibt stehen. Er horcht.« Erschöpft murmelt der Magier: »Er ist am Ende … er weiß nicht weiter … er will Schluß machen. Die Verzweiflung, ja, die Verzweiflung … sie wird sein Geständnis sein … Der Mann heißt Walter, ein Bäckergeselle. Er steht am Bahnkörper, er starrt in die Nacht … Er wartet auf den Zug …nein, er wartet auf den Tod … Ich sehe eine Lokomotive, die beiden Lichter, die sich in das Dunkel fressen. Raubtieraugen, sie kommen näher.« Hanussens Stimme wird schrill: »Der Mann hat sich auf die Schienen gelegt, quer … gleich … da … jetzt. Die Räder drehen durch … Jetzt – Aufprall, Bremsen quietschen. Langsam kommt der Zug zum Stehen«, sagt Hanussen, der aus der Trance zu erwachen scheint. »Es ist geschehen«, sagt er mit keuchendem Atem. Er sieht benommen um sich, als wüßte er nicht, wo er ist und was er tut. »Es ist geschehen.« Noch immer atmet er stoßweise. Allmählich geht seine Stimme in ein Stöhnen über: »Der Zug … um Gottes willen