„Schiefgehen kann es immer“, sagte Wulckow – und blinzelte Diederich an.
Diederich erwiderte ebenso bedeutsam: „Wenn man einander versteht, Herr Präsident, dann nicht.“
Hierauf hielt er es für besser, sich ganz der Dichterin und ihrem Werk zu widmen. Mochte der Bürgermeister inzwischen seine Freunde verraten und sich für die Wahlen auf alle Wünsche Wulckows verpflichten!
„Meine Schwester ist eine Gans“, erklärte Diederich. „Ich werde ihr nachher die Meinung sagen!“
Frau von Wulckow lächelte wegwerfend. „Das arme Ding, sie tut, was sie kann. Von seiten der Leute aber ist es wahrhaftig eine unerträgliche Arroganz und Undankbarkeit. Noch soeben hat man sie erhoben und für das Ideale begeistert!“
Diederich sagte durchdrungen: „Frau Gräfin, diese bittere Erfahrung machen Sie nicht allein. So ist es überall im öffentlichen Leben.“ Denn er dachte an die allgemeinen Hochgefühle damals nach seinem Zusammenstoß mit dem Majestätsbeleidiger und an die Prüfungen, die dann gefolgt waren. „Schließlich triumphiert doch die gute Sache!“ stellte er fest.
„Nicht wahr?“ sagte sie mit einem Lächeln, das wie aus Wolken brach. „Das Gute, Wahre, Schöne.“
Sie reichte ihm die schmale Rechte; „ich glaube, mein Freund, wir verstehen uns“ – und Diederich, des Augenblicks bewußt, drückte kühn die Lippen darauf, mit einem Kratzfuß. Er legte die Hand an das Herz und brachte gepreßt aus der Tiefe: „Glauben Sie mir, Frau Gräfin ...“
Die Nichte und der junge Sprezius waren jetzt allein ge[pg 315]blieben, hatten sich als erniedrigte Gräfin und armer Vetter erkannt, wußten nun, daß sie einander bestimmt waren, und schwärmten gemeinsam von künftigem Glanz, wenn sie unter goldener Decke mit anderen Ausgezeichneten, demütig stolz, von der Sonne der Majestät beschienen sein würden ... Da hörte Diederich die Dichterin aufseufzen.
„Ihnen kann ich es sagen“, seufzte sie. „Ich entbehre hier doch sehr den Hof. Wenn man, wie ich, von Geburt dem Hofadel angehört –. Und nun –.“
Hinter ihrem Zwicker sah Diederich zwei Tränen perlen. Dieser Blick in die Tragik der Großen erschütterte ihn so sehr, daß er strammstand. „Frau Gräfin!“ sagte er, verhalten und stoßweise. „Die heimliche Gräfin sind also –“ Er erschrak und schwieg.
Die bleiche Stimme des Bürgermeisters war eben dabei, dem Präsidenten zu verraten, daß Kühlemann nicht wieder kandidieren werde, und daß die Freisinnigen den Doktor Heuteufel aufstellen wollten. Er war mit Wulckow darin einig, daß man Gegenmaßregeln treffen müsse, solange noch niemand die Auflösung des Reichstages erwartete ...
Diederich wagte endlich wieder, leise und schonend:
„Frau Gräfin, aber, nicht wahr, es wird alles gut? Sie kriegen sich doch?“
Frau von Wulckow, mit Takt und Selbstbeherrschung, schränkte die Vertraulichkeit des Gefühls schon wieder ein. In leichtem Plauderton erklärte sie:
„Mein Gott, lieber Doktor, was wollen Sie, die leidige Geldfrage! Es ist wohl unmöglich, daß die jungen Leute zusammen glücklich werden.“
„Sie können doch prozessieren!“ rief Diederich, in seinem Rechtsgefühl gekränkt. Aber Frau von Wulckow verzog die Nase. „Fi donc! Das würde zur Folge haben, [pg 316]daß der junge Graf, also Jadassohn, seinen Vater entmündigen ließe. Im dritten Akt, den Sie noch sehen werden, droht er dem Leutnant damit in einer Szene, die mir, glaube ich, gelungen ist. Soll der Leutnant das auf sich nehmen? Und die Zerstückelung des Familienbesitzes? In Ihren Kreisen ginge es vielleicht. Aber bei uns ist eben manches nicht möglich.“
Diederich verneigte sich. „Dort oben herrschen natürlich Begriffe, die sich unserem Urteil entziehen. Und dem der Gerichte wohl auch“, setzte er hinzu. Die Dichterin lächelte milde.
„Sehen Sie, und so verzichtet der Leutnant ganz korrekterweise auf die heimliche Gräfin und heiratet die Fabrikantentochter.“
„Magda?“
„Jawohl. Und die heimliche Gräfin den Klavierlehrer. So wollen es die höheren Mächte, lieber Herr Doktor, denen wir –“ ihre Stimme verdunkelte sich ein wenig – „uns nun einmal zu beugen haben.“
Diederich hatte noch einen Zweifel, äußerte ihn aber nicht. Der Leutnant hätte die heimliche Gräfin auch ohne Geld heiraten sollen, es würde Diederich tief befriedigt haben in seinem weichen und idyllischen Herzen. Aber ach! diese harte Zeit dachte anders.
Der Vorhang fiel, das Publikum entrang sich langsam seiner Ergriffenheit, dann spendete es um so wärmeren Beifall dem Dienstmädchen und dem Leutnant, die, es ließ sich leider voraussehen, das schwere Geschick, nicht hoffähig zu sein, wohl noch länger würden tragen müssen.
„Es ist wirklich ein Elend!“ seufzten Frau Harnisch und Frau Cohn.
Beim Büfett sagte Wulckow, am Ende seiner Beratungen mit dem Bürgermeister:
„Wir bringen der Bande noch Gesinnung bei!“
Dann ließ er seine Tatze schwer auf Diederichs Schulter fallen. „Na, Doktorchen, hat meine Frau Sie schon zum Tee geladen?“
„Selbstverständlich, und kommen Sie recht bald!“ Die Präsidentin hielt ihm die Hand zum Kuß hin, und Diederich entfernte sich beglückt. Wulckow selbst wollte ihn wiedersehen! Mit Diederich zusammen wollte er Netzig erobern!
Indes die Präsidentin in der Spiegelgalerie Cercle hielt und Glückwünsche entgegennahm, bearbeitete Diederich die Stimmung. Heuteufel, Cohn, Harnisch und noch einige andere Herren erschwerten es ihm, denn sie gaben, wenn auch vorsichtig, zu verstehen, daß sie das Ganze für Quatsch hielten. Diederich war genötigt, ihnen Andeutungen über den durchaus großzügigen dritten Akt zu machen, damit sie verstummten. Dem Redakteur Nothgroschen diktierte er ausführlich, was er von der Dichterin wußte, denn Nothgroschen mußte fort, die Zeitung sollte in Druck gehen. „Wenn Sie aber Blödsinn schreiben, Sie Zeilenschinder, schlag’ ich Ihnen Ihren Wisch um die Ohren!“ – worauf Nothgroschen dankte und sich empfahl. Professor Kühnchen seinerseits, der gehorcht hatte, ergriff Diederich bei einem Knopf und kreischte: „Sie, mein Bester! Eens hätten Se nu aber unserm Klatschdirektor ooch noch erzählen können!“ Der Redakteur, der sich nennen hörte, kehrte zurück, und Kühnchen fuhr fort: „Nämlich, daß die herrliche Schöpfung unserer allverehrten Präsidentin schon mal ist vorausgeahnt worden, und zwar von keinem Geringeren als von unserem Altmeister Goethe in seiner [pg 318]Natürlichen Tochter. Nun, und das ist denn doch wohl das Höchste, was sich zum Ruhme der Dichterin sagen läßt!“
Diederich hatte Bedenken über die Zweckmäßigkeit von Kühnchens Entdeckung, fand es aber unnötig, sie ihm mitzuteilen. Der kleine Greis strebte schon, mit flatternden Haaren, durch das Gedränge; schon sah man, wie er vor Frau von Wulckow den Boden scharrte und ihr das Ergebnis seiner vergleichenden Forschung vortrug. Freilich, ein Fiasko, wie er es erlitt, hatte auch Diederich nicht vorausgesehen. Die Dichterin sagte eiskalt: „Was Sie da bemerken, Herr Professor, kann nur auf Verwechselung beruhen. Ist die Natürliche Tochter überhaupt