Sie banden nun ihre Pferde an den Zaun und schwangen sich von den steinernen Sphinxen, die den Eingang bewachten, über das Gitter in den Garten hinein. Da war noch alles still und duftig, einzelne Marmorbilder tauchten eben erst aus den lauen Wellen der Nacht empor. Das alte, finstere Schloß im Hintergrunde mit seinen dichtgeschlossenen Jalousien stand wie eine Gewitterwolke über einem freundlichen Nebengebäude, von dem man vor lauter Weinlaub fast nur das rote Ziegeldach sah. Unter den hohen Bäumen vor dem letzteren fanden sie einen Tisch und mehrere Stühle, als wären sie eben erst von einer Gesellschaft verlassen worden. „Da hat sie schon wieder ihre Gitarre draußen vergessen“, sagte Walter kopfschüttelnd. „Wer denn?“ fragte Fortunat – „die schöne Amtmannstochter, von der du mir erzählt hast?“ „Ja, Florentine“, erwiderte Walter; „das ist des Amtmanns Wohnung, und dort oben nach dem Garten hinaus ihre Schlafstube.“ „Du weißt hier gut Bescheid“, entgegnete Fortunat. Walter wurde rot und schwieg verlegen. Fortunat aber ergriff ohne weiteres die auf dem Tische liegende Gitarre, stellte sich vor das bezeichnete Fenster und sang:
Zwei Musikanten ziehn daher
Vom Wald aus weiter Ferne,
Der eine ist verliebt gar sehr,
Der andre wär es gerne.
„Ich bitte dich“, unterbrach ihn Walter, „was singst du da für dummes Zeug!“ „Wart nur, ’s kommt gleich klüger“, erwiderte Fortunat und sang weiter:
Die stehn allhier im kalten Wind
Und singen schön und geigen:
Ob nicht ein süßverträumtes Kind
Am Fenster sich wollt zeigen?
Sein Wunsch ging wirklich in Erfüllung. Ein schönes Mädchen, noch ganz verschlafen, wie es schien, fuhr oben ans Fenster, schüttelte die Locken aus dem Gesichtchen und sah neugierig mit großen, frischen Augen durch die Scheiben. Als sie aber unten einen unbekannten, wohlgekleideten Mann erblickte, war sie ebenso schnell wieder verschwunden. Walter wurde nun in der Tat unwillig, Fortunat aber griff immer lustiger in die Saiten und sang wieder:
Mein Herz ist recht von Diamant,
Ein Blum von Edelsteinen,
Die funkelt fröhlich übers Land
In tausend bunten Scheinen!
Und durch das Fenster steigen ein
Waldrauschen und Gesänge,
Da bricht der Sänger mit herein
Im seligen Gedränge.
Unterdes war es im Hause nach und nach lebendig geworden, Türen gingen auf und zu, im Innern hörte man dazwischen das kräftige Lachen eines Mannes, das immer näher zu kommen schien. Endlich wurde die Haustür von innen geöffnet, und, mit einer langen Pfeife im Munde, stand ein schon völlig angekleideter, großer, starker Mann vor ihnen, dessen gebräuntes, lebenslustiges Gesicht von der Morgensonne hell beschienen wurde. Es war der Amtmann selbst. Er war voller Freude, Walter so unerwartet wiederzusehen, und konnte gar nicht aufhören, über das lustige Ständchen zu lachen, durch das sich Fortunat sogleich in seine entschiedene Gunst gesetzt zu haben schien. Mit schallender Stimme rief er nun alles im Hause wach, es mußten eilig Kaffee und Pfeifen ins Freie herausgebracht werden, sie lagerten sich um den Tisch auf dem grünen Platze vor der Tür, den die beiden Gäste noch vor kurzem so einsam gesehen hatten, und Walter mußte ausführlich ihre nächtlichen Irrfahrten vortragen.
Unterdes war auch die Frau Amtmann dazugekommen. Sie hatte sich vor dem unbekannten Gaste sorgfältig und beinahe festlich angetan und empfing Fortunat mit umständlicher, wortreicher Feierlichkeit. Fortunat, dem bei solcher Gelegenheit unwillkürlich alle Bewillkommnungskomplimente einfielen, die er in seinem ganzen Leben gehört oder auch nicht gehört hatte, konnte nicht widerstehen, mit einem unerschöpflichen Schwalle der auserlesensten Redensarten zu entgegnen, und erweckte dadurch bei der Dame eine nicht geringe Meinung von sich und seiner feinen Lebensart.
„Das ist heute ein rechter Freudentag!“ sagte der Amtmann, „da soll es auch einmal hoch hergehen.“ Er erzählte nun, wie sie heut gegen Abend auch noch ihren jungen Neffen Otto hier erwarteten, der von der fernen Universität zurückkehrte, um sich zu seiner Anstellung vorzubereiten. Die Amtmann ließ mit zufriedener Miene noch einfließen, daß Otto, der Sohn ihrer verstorbenen Schwester, aus Herrn Walters Städtchen sei, daß er schon auf der Schule immer für den Stillsten und Geschicktesten galt und nun ein wahrer Gelehrter geworden sei.
Fortunat bemerkte während dieses Gesprächs, daß sich Walter unterdes verloren hatte. Der Garten, der nun in voller Morgenpracht herüberfunkelte, lockte auch ihn schon lange, und er sagte endlich dem Amtmanne, wie er Walter vorzüglich in der Absicht hierherbegleitet habe, um die Heimat des berühmten Grafen Victor einmal in der Nähe zu sehen. Der Amtmann lächelte. „Ich weiß nicht“, sagte er, „ob Sie auch solcher Meinung sind, aber wenn die andern von dem berühmten, gelehrten Grafen sprechen, denken sie sich ihn immer mit der Zipfelperücke, wie den Hilmar Curas vor seiner Grammatik. Das kann mich immer ärgern. Was da Gelehrter! Zu Pferde muß man den großen Victor sehen, im Walde auf der Jagd, auf dem Felsen, wo allen andern schwindelt – mit einem Worte: Das ist ein rechter Mann! Das Berühmtsein und Versemachen ist nur so Lumpenzeug daneben, wie eine Schabracke auf einem schönen Roß, und er gibt selber nichts darauf. Doch wir sprechen ein andermal mehr davon.“ Er stand nun auf und beschrieb Fortunat die Gänge, die er im Garten einschlagen sollte, um zu den schönsten Punkten zu gelangen, da ihn selbst die Wirtschaftsanordnungen für den anbrechenden Tag in das Haus hineinriefen.
Fortunat wandte sich nun allein in den Garten, wo er zu seinem Erstaunen ringsumher nur architektonische Formen altmodischer Gänge, hohe, feierliche Buchenalleen, Springbrunnen und künstliche Blumenbeete erblickte, von denen dunkelglühende Päonien und prächtige Kaiserkronen glänzten. Es war, als hätte ein wunderbarer Zauberer über Nacht seine bunten Signaturen über das Grün gezogen und säße nun selber eingeschlummert in dem Labyrinth beim Rauschen der Wasserkünste und träumte von der alten Zeit, die er in seine stillen Kreise gebannt.
Schon waren Schloß und Amtmannswohnung hinter Fortunat versunken, als er plötzlich einen wohlgekleideten jungen Mann bemerkte, der an den Marmorstufen eines einsamen Gartenhauses eingeschlafen war. Er wollte umkehren, aber der Schläfer, von dem Geräusch erweckt, fuhr soeben rasch auf, blickte verworren ringsumher und fragte Fortunat, wer er sei. Dieser erzählte nun sein nächtliches Abenteuer und seinen langgehegten Wunsch, diese Gegend einmal zum Angedenken des Dichter-Grafen Victor zu durchstreifen. „Vortrefflich“, erwiderte der andere, „so will ich Sie sogleich herumführen!“ „Kennen Sie den Grafen Victor?“ fragte Fortunat. „Nicht sonderlich“, erwiderte jener, „doch weiß ich eben genug von ihm, um Ihnen hier überall genügende Auskunft zu geben.“
Fortunat nahm das unerwartete Anerbieten dankbar an und betrachtete, als sie nun miteinander weitergingen, mit freudiger Überraschung das schöne, aber etwas bleiche und wüste Gesicht des Unbekannten, über das die Morgenlichter durch das Laub wunderlich wechselnde Scheine warfen. Er äußerte endlich seine Verwunderung über die, wie es schien, absichtlich und sehr sorgfältig festgehaltene Altmodigkeit dieses Gartens. „Der Graf“, entgegnete sein Begleiter, „will es so haben. Buchsbaumene Kindlichkeit! Wie es in seiner Kindheit gewesen, so soll es hier ferner verbleiben, selbst dieselben Blumen müssen jährlich an denselben Plätzen wieder gepflanzt werden wie damals.“ „Er hat recht“, sagte Fortunat, „was soll ein Garten, wenn er nicht ein Gedicht von ganz bestimmtem Klange ist! In diesem einförmigen Plätschern der Wasserkünste, in dieser geisterhaften Symmetrie der Laubwände und stummen Marmorbilder ist eine Wehmut, die einen wahnsinnig machen könnte.“
„Sehen Sie da“, rief Fortunats Begleiter aus, „das Großartige und Kühne dieser Komposition. Ich betrete diesen Ort nie ohne Ehrfurcht vor dem seltenen Genius dieses Dichter-Grafen – oder sagen wir es nur lieber grad heraus: Dichterkönigs! Besonders muß ich Sie hier auf jene leicht geschwungenen Brücken aufmerksam machen. Sie führen,