Geliebte Lehrerin. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711718827
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      „Ja“, sagte Susanne Schäfer, und ihr Mund war ganz trocken.

      „Wir können uns nämlich nicht mehr richtig erinnern“, erklärte Clärchen, „bloß, daß wir zusammen über die Straße gelaufen sind. Und danach ist‘s finster. Aber die Schwestern sagen, wir hatten einen Unfall.“

      „Wir kamen vom Schwimmen, nicht wahr?“rief Inge.

      „Ja“, sagte Susanne Schäfer wieder, „das stimmt alles.“ Mit Erschütterung wurde ihr bewußt, wie diese Kinder sich wohl den Kopf zerbrochen und sich bemüht haben mochten, den undurchdringlichen Schleier zu lüften, hinter dem sich ihnen die schreckliche Erinnerung verbarg.

      „Habt ihr schon mal von den anderen aus eurer Klasse Besuch gehabt?“ fragte sie.

      „Ja, ein paar waren da.“ Inge schob mißvergnügt die Unterlippe vor. „Aber sie waren so komisch. Man konnte sich gar nicht richtig mit ihnen unterhalten.“

      „Und von Petra, Rosel und Susi haben sie überhaupt nichts sagen wollen“, ergänzte Clärchen rasch, „und gerade darum denken wir, daß sie …“ Sie zögerte und warf hilfesuchend einen Blick zu Inge hinüber.

      „… daß sie vielleicht tot sind“, ergänzte Inge mit einer Stimme, die ganz zornig vor unterdrückter Erregung klang.

      Susanne Schäfer war nahe daran, die Wahrheit zu sagen. Denn was hatte es für einen Sinn, die Kinder im unklaren zu lassen? Früher oder später würden sie doch auf irgendeine Weise, spätestens zu Schulanfang von ihren Klassenkameraden, erfahren, wie und was alles geschehen war.

      Sie hatte schon den Mund geöffnet, um zu einer Erklärung anzusetzen. Aber im letzten Moment hielt sie sich zurück. Sie hatte kein Recht, offen mit den Kindern zu sprechen. Vielleicht wollten es ihre Eltern nicht, vielleicht aber auch hielt es ihr Arzt für unerwünscht, daß sie die Wahrheit erfuhren.

      „Sagen Sie es uns doch, bitte!“ drängte Clärchen. „Sie wissen es doch bestimmt … und Sie haben uns noch nie belogen!“

      Susanne Schäfer sah zwei erwartungsvolle Augenpaare auf sich gerichtet. Ja, sie hatte ihre Kinder noch nie belogen, aber diesmal mußte es sein. Was blieb ihr denn anderes übrig?

      „Tut mir leid“, sagte sie, „ich weiß nicht viel mehr als ihr. Ich habe selbst bis heute im Krankenhaus hier gelegen.“

      „Aber wieso?“ rief Clärchen und richtete sich auf dem Ellbogen auf. „Sie sind doch gar nicht verletzt?“

      „Nein. Aber ich habe einen Schock bekommen.“ Als ihr bewußt wurde, daß die Kinder sich darunter nichts vorstellen konnten, setzte sie erklärend hinzu: „Einen Riesenschreck, und davon bin ich krank geworden.“

      Sie war ganz erleichtert, als sie hörte, daß die Tür in ihrem Rücken geöffnet wurde, denn das Gespräch entwickelte sich anders, als sie erwartet hatte. Sie drehte sich um, in der Erwartung, daß eine Schwester eingetreten war, um ihr zu melden, daß das Taxi wartete.

      Aber sie sah sich Frau Hübner, Clärchens Mutter, gegenüber, einer großen mageren Frau in einem formlosen grauen Mantel, einen genauso formlosen grauen Hut und dem allzu stark gekrausten Haar.

      Susanne Schäfer erhob sich sofort, wollte grüßen. Aber sie kam nicht dazu.

      „Sie hier?“ fragte Frau Hübner und musterte die Lehrerin mit hochgezogenen Augenbrauen von Kopf bis Fuß.

      Susanne Schäfer erstarrte unter diesem verachtungsvollen Blick, sekundenlang war sie unfähig, eine Erklärung abzugeben.

      Aber Clärchen war nicht auf den Mund gefallen. „Ja, stell dir vor, Mutti“, rief sie unbefangen, „das Fräulein hat uns besucht … ist das nicht prima?“

      „Darüber“, sagte Frau Hübner hart, „kann man geteilter Meinung sein.“

      Jetzt hatte Susanne Schäfer sich wieder gefangen. „Ich wurde erst heute entlassen“, sagte sie, „da wollte ich nur … ich hielt es für richtig, nach Clärchen und Inge zu sehen. Schließlich sind die beiden meine Schülerinnen.“

      „Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!“

      „Was soll das heißen?“

      „Daß Sie wohl kaum auf der Pestalozzischule bleiben werden. Jedenfalls ich werde Ihnen meine Tochter nie mehr anvertrauen. Und die anderen Mütter denken genauso.“ Frau Hübner preßte die schmalen Lippen zusammen, auf ihren knochigen Wangen zeichneten sich rote Flecken ab.

      „Aber … ich habe doch nichts getan!“ rief Susanne Schäfer. „Sie können doch nicht …“ Sie unterbrach sich mitten im Satz. Ihr war bewußt geworden, daß die beiden kleinen Mädchen aufmerksam lauschten und sich nichts von dieser Auseinandersetzung entgehen ließen.

      „Entschuldigen Sie, bitte, Frau Hübner“, sagte sie rasch, „ich werde natürlich nicht wieder hierherkommen, wenn Sie es nicht wünschen.“

      Sie wandte sich den Kindern zu, sagte mit einem Lächeln, von dem sie selbst nicht wußte, wie gequält es wirkte: „Lebt wohl, ihr beiden … und gute Besserung!“

      Als Susanne draußen auf dem Gang stand, mußte sie sich einen Augenblick lang gegen die Wand lehnen und tief durchatmen. Wieder war da dieser Druck im Magen und dieses Ziehen in den Beinen.

      „Ich darf nicht schlappmachen“, sagte sie halblaut, „ich muß hindurch, mitten hindurch.“

      Aber das winzige Fünkchen Freude, das bei ihrer Entlassung in ihr aufgeflackert war, war gänzlich erloschen. Nur graue Asche war übriggeblieben. Sie hatte zu ahnen begonnen, was ihr noch alles bevorstand.

      In ihrem gemütlichen möblierten Zimmer bei Frau Schmitt konnte Susanne Schäfer sich immerhin vorstellen, daß alles beim alten geblieben war, die Welt sich rings um sie nicht verändert hatte. Aber sobald sie das Haus verließ, wurde es schrecklich.

      Wenn sie in das Lebensmittelgeschäft an der Ecke trat, um etwas einzukaufen, wichen die Frauen mit ihren Körben, Netzen und Handtaschen vor ihr zurück. Sie erwiderten ihren Gruß rasch, wie verlegen, sahen sofort beiseite. Die Verkäuferinnen bekamen rote Köpfe, bedienten sie mit verlegenem Lächeln. Susanne Schäfer kam sich wie eine Aussätzige vor.

      Wenn sie im Kurpark spazierenging — in den ersten Tagen nach ihrer Entlassung tat sie das noch —, starrten sogar die Fremden sie an. Sie spürte, wie man hinter ihrem Rücken über sie tuschelte.

      Die Einheimischen waren noch viel schlimmer. Frauen, die sie früher gegrüßt hatten, wichen einer Begegnung aus, indem sie auf die andere Straßenseite hinüberwechselten. Und die Männer sahen einfach durch sie hindurch, als ob sie Luft wäre. Jeder Ausgang wurde für sie geradezu zu einem Spießrutenlaufen. Sehr rasch kam es soweit, daß sie das Haus überhaupt nicht mehr verließ.

      „Ja, das ist schlimm“, sagte Frau Schmitt, die alles verstand, ohne daß Susanne Schäfer ihr irgend etwas zu erzählen brauchte, „die Leute sind nun mal so. Aber ich sage Ihnen, Fräulein, das ist alles nur Dummheit. Sie dürfen sich jetzt nicht verstekken. Dann können die ja wirklich glauben, Sie hätten etwas angestellt.“

      „Langsam kommt es mir selbst so vor“, sagte Susanne Schäfer bitter.

      „So einen Unsinn sollten Sie gar nicht reden! Natürlich waren Sie nicht schuld. Das weiß doch jeder, sogar die Polizei, und das will was heißen, die tappen doch meistens im dunkeln. Nein, Fräulein, Sie sind unschuldig wie ein neugeborenes Lamm … aber wissen Sie, wem Sie das alles zu verdanken haben?“

      Susanne Schäfer, die nicht verstand, wohin die Frage zielte, schüttelte stumm den Kopf.

      „Ihrem sauberen Herrn Wünning! Daß er Sie hat fallenlassen, das war wie ein Signal … das war, als wenn jemand den ersten Stein geworfen hätte. Er ist schuld, daß Sie …“

      Susanne Schäfer preßte sich beide Hände gegen die Ohren. „Seien Sie mir nicht böse, Frau Schmitt“, sagte sie, „aber