Der flammende Sumpf. Rudolf Stratz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Stratz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711507315
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Vater labge Zeit schweigens an. Er fasst sich mechanisch, wie um aus einem bösen Traum zu erwachen, an die kolbige Nase, er nimmt, als würde ihm die kühle meernahe Herbstluft von Gatschina zu heiss, die Mütze von dem grossen, spärlich behaarten Grauschädel. Der kränkliche, verbitterte Mund steht ihm verblüfft halb offen. Er sieht in diesem Augenblick gar nicht aus wie ein Vater der Lüge, sondern wie ein unglücklicher Vater — ein noch halb ungläubiger, ängstlicher und schwächlicher Greis.

      „In Russland? Wie das?“ fragt er endlich. Es ist noch das höfliche, lispelnde Petersburger Französisch. Aber es zittert aus gepresster Kehle. Papa gibt mir einen Wink, zur Seite zu treten. Er spricht leise auf den kleinen allmächtigen Mann vor ihm ein, der mit einem Federzug, immer geräuschlos, immer in einer leidenden, scheinbar schonenden Art die Untertanen des Zaren zu Hunderten nach Sibirien und in die Kasematten verschickt. Er erzählt ihm mein Abenteuer dieser Nacht. Dann, etwas lauter, mit einem warnenden Wimperzucken zu mir, nichts von dem Passdiebstahl zu verraten:

      „Wie dieser Gymnasiast aussah? Mein Sohn kann das besser schildern!“

      Ich nähere mich ehrerbietig.

      „Ob es eine Frau war? Gewiss, Eure Hohe Exzellenz!“ versetze ich. „Ich habe es genau gesehen. Ich kann es beschwören! Ihr Alter? Ich denke, so etwa achtundzwanzig Jahre. Mittelgross war sie und sehr mager . . .?

      „Wie hätte sie sonst die Gymnasiastenuniform tragen können?“ schaltet mein Vater, verhalten hinter der hohlen, weissen Hand hüstelnd, ein.

      „Ihr Gesicht klein und hager und sehr bleich!“ fahre ich fort. „Sie hatte kurze, tiefschwarze Haare. Die Augen auch Schwarz und unruhig — unheimlich möchte ich fast sagen!“

      „Haben Sie meine Tochter Ljuba je gesehen?“ fargt Boris Tschurin matt.

      „Niemals, Eure Hoge Exzellenz!“

      „Nun: Sie beschreiben mir ihr Äusseres, so wie ich sie zuletzt sah — in der Peter-Pauls-Festung — vor fünf Jahren, nachdem . . .“

      Papa streckt rasch die Hände aus, als wollte er den schwächlichen Körper neben sich im Fallen auffangen. Denn der kleine, fahle Würdenträger schwankt. Aber er befiehlt sich, mit einer zähen Willenskraft um die dünnen, verschlossenen Lippen, aufrecht zu bleiben. Ein Ohnmachtsanfall hier — auf offenem Bahnsteig — gerade hier in Gatschine: es wäre das sarkastische Tagesgespräch in den Petersburger Klubs — das schadenfrohe Geflüster in den Salons und Ministerien — das entzückte Gewisper in den Vorgemächern des Zaren . . . womöglich der Anfang vom Ende — bei einem Menschen, der — schon dank seinem Amt — nur Feinde hat, den jeder fürchtet, vor dem jeder auf der Hut ist! Boris Tschurin sammelt sich. Er ist wieder ganz der Alte — in der undurchdringlichen Stille des Gesichts, das einem schlafenden Sumpfspiegel gleicht, in dem trockenen Pariser Tonfall seiner Kehle.

      „Noch steht ja nichts fest! Es kann auch eine andere als meine tote Tochter sein!“ sagt er eindringlich, gedämpft und vertraulich. „Doch immerhin — urteilen Sie selbst: wie stehe ich da? Warum straft mich Gott? Soll denn an einem ungeratenen Kind wie Ljuba meine ganze Karriere scheitern? Und meine Zweite, die Irina, statt sich zu verloben — an jeder Hand hat sie mit ihrer gefährlichen Schönheit zehn glänzende partien —, wandelt durch die Salons meiner Frau als ein lebendes Rätsel! Gott weiss, welche Störung meiner Laufbahn mir von ihr noch droht!“

      Dieser kleine alte Mann vor mir hat vielleicht noch zehn Jahre zu leben. Er hat eigentlich alles erlangt, was man an Würden und Bürden erreichen kann. Aber er denkt in diesem Augenblick an nichts anderes als an ein paar bunte Bändchen und Ordenssterne mehr auf seine eingefallenen Brust. Er tritt in seinen Salonwagen.

      „Heute abend um acht bin ich bei Ihnen, mein Professor“, murmelt er dabei. „Doch halten Sie Ort und Stunde geheim! Ich werde beständig von Mördern verfolgt!“

      Der Zug hat nur auf Seine Hohe Exzellenz gewartet. Kaum sitzt sie darin, so ruft der Oberkonuktor schon zur Abfahrt. Ich erreiche eben noch mein Abteil. Gleich darauf setzt sich der Wagen schon in Bewegung,

      III

      Ich sitze fiebrig in meinem Abteil. Ich trommle verstört mit den Fingeren auf den Knien. Ich qualme eine Papyros nach der anderen und werfe sie in meiner Aufregung halbgeraucht durch das Fenster. Es sind nur zweiundvierzig Werst von Gatschine nach Petersburg. Doch was kann während dieser Stunde alles geschehen? Unter mir rattern eintönig die Räder: Dein Pass . . . dein Pass . . . Verschaffe dir einen neuen, gültigen Pass, ehe man einen Hochverräter mit deinem alten Pass erwischt!

      Mein Gott — wo bleibt denn Petersburg? Ich atme auf: Da flimmert endlich fern aus Seedunst, Fabrikrauch und Herbstnebel die gekrönte galeere als Wetterfahne auf der goldenen Turmspitze der Hauptadmiralität. Das Wahrzeichen meiner Vaterstadt Petersburg. Ich fahre vom Warschauer Bahnhof den schnurgeraden Ismailowski-Prospekt hinunter. Rechts und links begrüssen mich die bunten und doch nüchterne Häuser, die vielen Kuppeln und Kirchen — von Kindheit an vertraut das alles, und doch mit seinen russischen Strassennamen und Ladeninschriften ein wenig fremd, wenn man so lange im Ausland war.

      Der Pass . . . der Pass . . . Ich beuge mich in dem Wägelchen vor, als könnte ich dadurch den Hufschlag des Gauls auf den Katzenköpfen des Granitpflasters beschleunigen. Gottlob: da hallen dumpf die Bohlen der Blauen Brücke. Da ragt duster in der grossen Seestrasse das Palais des Grossfürsten Oleg Igorowitsch. Zwischen den beiden wachehaltenden finnischen Gardeschützen verbeugt sich auf der Paradetreppa des Ehrenhofs ein blossköpfiger Lakai: Fräulein Magna Casparson wird erst um zwei Uhr mit den grossfürstlichen Kindern von einer Ausfahrt nach den Inseln zurück sein . . .

      Der Pass . . . der Pass . . . Jetzt ist es Mittag. Ich fahre in unsere Wohnung in der Michailowskaja. Ich stürze die Treppen hinauf und in Mamas Arme. Ich sitze neben ihr auf dem Sofa. Ich halte ihre Hand in meiner. Mama ist noch rundlicher und behaglicher geworden in diesen zwei Jahren. Ihr pastörlicher, baltischer Blondscheitel schimmert schon stark ins Graue. Dicke Freudentränen laufen über ihr rotbäckiges, gutes Gesicht. Ach — es ist doch schön, wieder bei Muttern zu sein . . .

      Aber er Pass . . . der Pass . . . Ich soll Mama Rede und Antwort stehen und tue es nur geistesabwesend. Ich soll effen und bringe kaum einen Bissen hinunter, und Mama nötigt liebevoll:

      „Du ist Jungwild. Da sind eingemachte Mossbeeren. Nimm von diesen geräucherten Killo-Strömlingen! Mein Bruder schickte sie aus Estland. Er denkt noch jetzt an uns der Gute, mitten in seinem Kampf gegen den Dschingis-Khan!“

      „Dschingis-Khan?“ frage ich mechanisch, und Mama kollert auf:

      „So nenne ich den Zaren, seit er uns Balten unterdrückt! Hängen sollte man diesen Pobjedonoszjew mit seinem ganzen heiligen Synod! Ich kann mir nicht denken, dass Iwan der Schreckliche schlimmer gehaust hat als diese orthodoxen Kreaturen!“

      Der Pass . . . der Pass . . . Ich bemühe mich, mir den Pastor Casparson in den estnischen Wäldern vor Augen zu rufen: Ich frage: „Was hat Onkel Martin denn getan?“

      „Seine Pflicht als Seelsorger!“ ruft Mama empört. „Er hat einen lutherischen Kirchspielangehörigen mit einer russischen Orthodoxen auf deren Wunsch lutherisch getraut! Darauf steht nach dem Ukas des Tamerlan in Gatschina Sibirien! Die Untersuchung ist eingeleitet. Gott weiss, was wird . . .“

      Armer Onkel Martin . . . Aber ich bin selbst in Nöten . . . Ich sehe auf die Uhr. Ich stehe hastig auf. Mama erschrickt.

      „Wohin, Axel?“

      „Zu Magna Casparson! Nein — nein — Mama! Ich muss. Papa schickt ihr durch mich ein eiliges Rezept für die Kinder des Grossfürsten.“

      Der Grossfürst — da ist sofort das russische Verstummen. Der russische Gehorsam. Mama lässt mich zärtlich ziehen, und ich fahre wieder atemlos in die Bolschaja Morskaja. Ein Diener führt mich in einen kahlen, dumpfigen Empfsngsraum. Ich gehe da rastlos auf und ab. Ich fange in meiner Nervosität mit Händeklappen die Motten, die aus den verstaubten Mahagonimöbeln flattern. Dann öffnet sich die Tür, und Magna Casparson tritt ein. Sie ist mittelgross und schlank. Sie trägt ein einfaches, weisses Kleid. Sie drückt