Der flammende Sumpf. Rudolf Stratz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Stratz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711507315
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und der andere!“

      Ich kann nichts erwidern. Papa murmelt in Gedanken:

      „Tschurin weiss offenbar noch nicht, dass seine Tochter deinen Pass gestohlen hat!“

      „Nein.“

      „Er weiss auch noch nicht, dass du, hinter seinem Rücken, einen neuen Pass hast!“

      „Nein.“

      „Aber er kann es jeden Augenblick erfahren. Gott weiss, was er dann tut. Bis dahin must du deine Stellung gegen ihn möglichst stärken!“

      „Wie denn?“

      „ . . . indem du in seinem Hause verkehrst! Bei einem jungen Mann, den man in Madame Tschurins berühmtem politischen Salon sah, muss alles Unangenehme vertuscht werden. Alles, nur kein Skandal!“

      „Ja“, sagte ich matt.

      „Tschurin hat dich ja Gott sei Dank selber eingeladen!“ schliesst mein Vater. „Also fahre unter allen Umständen morgen nachmittag hin und zeige dich bei Madame Tschurin!“

      V

      So fuhr ich tags darauf zur Teestunde, als ie Herbstsonne draussen in Kronstadt schon tief über Vater Johanns, des Wunderpopen, Kathedrale stand, hinaus zur Apothekerinsel, eine Werst nach der anderen, bis zu dem Botanischen Garten. Schon von weitem sah man an dessen Rand Boris Tschurins Dienstwohnung — ein grosses, niederes, weisses, ursprünglich wohl etwa für einen bescheidenen Inspektor im Etat der landwirtschaftlichen Domänen bestimmtes Gebäude. Viele Equipagen und Droschken hielten vor der Kronsvilla. Sie stand ganz frei, anscheinend jedem tückischen Anschlag ausgesetzt. Aber dann begriff man, dass diese Leere gerade ihr Schutz war. Niemand konnte unbemerkt nahen. Von nirgendsher drohte verdächtige Nachbarschaft. Die da und dort unauffällig scharwerkenden Gärtner kannten jedenfalls genau den Weg zur Fontanka drinnen in Petersburg und der Geheimpolizei im Ministerium des Innern . . .

      Ich trete ein. Hier ist das echte Russland. Hier weht Bojarenluft. Die Herrin des Hauses stammt aus einem der vielen, im Moskauer Gouvernement begüterten Fürstengeschlechter. Bauernkerle von Lakaien reissen mir gewaltsam, zu dritt zugleich, Pelzmütze, Mantel und Galoschen vom Leibe — je vornehmer das haus, desto wilder die Dienstbeflissenheit — und schlagen die Flügeltüren wie Scheunentore vor mir auf. Eine Menge Räume. Ein Stimmengewirr. Eine Masse Menschen. Tschin in Uniformen und Zivil. Farbige Damenkleider. Ich kenne keine Seele. Ich mache am Eingang halt und schaue mich um . . .

      . . .Wenn ich jetzt beim Niederschreiben dieser Erinnerungen meiner Jugendzeit auf meinen Lebenslauf zurückblicke, dann ist mir eines klar: die grossen Ereignisse unseres Daseins trippeln, wie der deutsche Weltweise sagt, lautlos, unbemerkt, auf Taubenfüssen in unsere Erdenbahn. Erst später, viel, viel später, erkennt man, dass es Schicksalsvögel waren, die da, glückbringend zur Rechten oder unheildrohend zur Linken, warnend oder wegweisend, vor uns aufflatterten . . .

      Aber damals — an jenem Nachmittag, beim Betreten des Tschurinschen Salons, hatte ich im selben Augenblick schon das förmlich hellseherische Gefühl: Hier und heute erfüllt sich ein Stück deines Lebensschicksals . . .

      Mitten in diesem Zimmer, gerade unter dem venezianischen Glasgeglitzer des Kronleuchters, stand ein junges Mädchen zu Anfang der Zwanzig, mehr als mittelhoch, viele der sie umdrängenden Herren mit ihrem wie eine glänzend braune Krone um den Kopf geschlungenen Haarkranz überragend. Sie trug ein Kostüm von goldgesticktem, grünlich schillerndem Pfaublau, mit Keulenärmeln, fusslangem Raffrock und der Wespentaille jener Tage. Aber selbst diese Einschnürung vermochte ihrem jungen, prachtvoll gewachsenen Körper seine Spannkraft nicht zu rauben. Schmalschultrig und merkwürdig hüftschlank, in ihrer spielenden Geschmeidigkeit an die Zigeunerinnen erinnernd, die im Sommer auf den Inseln singen und tanzen, bog sie sich wie eine Schlange im Kreuz nach rückwärts und kämpfte dabei hell lachend mit einem reisenhaften, russischen Windhund, der wie ein Mensch auf den Hinterbeinen vor ihr stand und seine Vorderpfoten schwer auf ihre Schultern stützte. Sie konnte die Last kaum tragen. Aber sie neckte das Ungetüm auch noch mit einem Stück fleischgefüllter Pirogge, das sie mit dem hochgereckten dünnen rechten Arm unerreichbar weit über ihm hielt. Der spitze Hechtrachen des Barsoi glühte ihr mit scharfem weissen Gebiss gerade in das schöne, kühn und lebhaft geformte Gesicht. Sie lachte halboffenen Mundes, mit ebenso weissen Zähnen dagegen. Sie tauchte spielerisch ihre glänzenden, unbestimmt braunen Augen in das gierige, grünliche Geflimmer seiner Pupillen. Die beiden rangen miteinander. Beides zwei Edelstücke der Schöpfung. Es war wie ein belebtes Gemälde aus Meisterhand, dessen Hintergrund durch den hellen Fensterrahmen den möwenüberflatterte, graue, windige Wellenschlag der Newa und der weite, graubleiche, russische Nebelhimmel bildete.

      Und ich sah das an — mit einer feltsamen, verdächtigen Neugier und fühlte: Irgend etwas geschah in mir. Ich wusste noch nicht was . . .

      Nun gab das schöne Menschengeschöpf dem schönen Tier den Leckerbissen preis. Die Kiefer des Barsois schnappten gierig. Er sprang leise winselnd zur Erde. Seine Herrin liess mit den weichen, lässigen Bewegungen der Vollblutrussin die Arme sinken. Sie stand, immer noch lachend, das edle Antlitz gerötet, lebhaft atmend im Kreise der jungen Männer. Auch jetzt noch ungefähr wie eine Tierbändigerin im Käfig zwischen ihrem Raubvolk. Ein ganz leiser Spott zwinkerte schläfrig in ihren Augen.

      Einer der jungen Petersburger Elegants — sein Gesicht ist auffallend töricht — wirft sich mit gefalteten Händen vor ihr auf die Knie. Sie muster ihn kaltblütig und gibt ihm dann mit der Spitze des langen, schmalen Schuhs einen leichten Stoss vor die Brust. Es würde kaum genügen, ihn umzuwerfen. Aber der Anbeter fällt von selbst um. Friedlich, mit verzücktem Lächeln, immer noch die Hände über der Brust gefaltet, liegt er zu ihren Füssen und start begeistert zu ihr empor. Die anderen jungen Männer wundert das nicht. Sie sind alle zusammen verrückt . . .

      „Aufstehen, Grischa!“ ruft einer. Aber der Jagdjunker, oder was er ist, auf dem Teppich rührt sich nicht. „Man muss ihn wegtragen!“ Sie packen den Verliebten an den Knien und unter den Achseln und schleppen ihn unter Halloh davon. Aus der Ecke ruft eine zigarettenrauchende kleine Blondine lachend seiner Angebeteten zu:

      „Hat sich Grischa deinetwegen erschossen?“

      „Er wäre der erste nicht!“ murmelt neben mir ein missgünstiger, älterer Herr zu seinem Nachbar, und der nickt bedeutsam. Die Züge des schönen Mädchens unter dem Kronleuchter umwölken sich eine Sekunde. Es ist nu rein rascher Schatten. Ihr Antlitz sieht einen Augenblick hart, beinahe grausam aus. Draussen im Vorraum dröhnt plötzlich ein dumpfer Schlag. Ein Schuss? . . . Grischa? . . . Oder ein Attentat . . .? Gerade in diesem bei Tag und Nacht todbedrohten Hause? Eine jähe, unheimliche Stille schauert durch die Räume voll Damen, Tschin, Garde, Adel, Diplomaten. Nein, Gott sei Dank! Grischa hat nur mit dem Bügel eines der draussen hängenden Offizierssäbel an den grossen kupfernen Samowar geklopft. Er steht schon, stolz auf seine Heldentat, mit neckisch zur Seite geneigtem, fadblondem Köpfchen auf der Schwelle. Das junge Mädchen muster ihn aus halbgeschlossenen Lidern und dann die anderen mit plötzlicher Langeweile und Geringschätzung.

      „Das sind Bauernspässe!“ sagte sie und gleitet mit raschen, lebhaften Bewegungen auf eine Gruppe teetrinkender, alter Damen zu. Sie setzt sich mitten unter sie. Sie beginnt, liebenswürdig und bescheiden, beinah kindlich mit ihnen zu plaudern. Ich höre, wie eine der Matronen sich durch ihren Papyrossenqualm hindurch amüsiert bei ihr erkundigt: „Nun — welches Ihrer hundert Gesichter tragen Sie heute?“ Und die Barsoi-Bändigerin schüttelt ahnungslos den schönen, klassisch geformten Kopf und macht grosse, unschuldige Augen. Dann dreht sie mir, im Gespräch mit den Alten, den Rücken. Ich stehe. Ich sammle mich. Ich muss mich doch endlich der Hausfrau vorstellen. Vom Kanapee nebenan fragt eine ältere Dame mit leidender Stimme:

      „Sind da drinnen die Kosaken? Oder was war das für ein Lärm?“

      „Ach — sie spielte nur mit dem Windhund!“

      „Sie ist selber ein Windhund!“ sagt die alte Dame matt. Drüben hebt das schöne Mädchen im Kreis der Würdenträgerinnen voll Abscheu die Schultern.

      „Ich soll wieder den Chriffre tragen und Hoffräulein werden?