»Wir müssen was bei meiner Mutter abgeben, sie arbeitet ganz in der Nähe vom Nationaltheater«, sagte Emil. »Vielleicht gehen wir hinterher ja auch noch zu McDonald’s.«
»Arbeitet sie in einem Geschäft?«, fragte Lotte und Henny wollte gleichzeitig wissen: »Zu welchem McDonald’s?«
»Nein, sie arbeitet in einem Büro. Und: Zu welchem geht ihr denn?«
»Zu dem McDonald’s in der Klingenberggata«, sagte Henny schnell.
»Passt doch hervorragend«, sagte Emil und sah Lasse von der Seite an.
Lotte stieß Henny in die Rippen. Sie hatte die spitzesten Ellenbogen der Welt. Diesmal wollte sie wahrscheinlich signalisieren, dass sie überhaupt noch nicht entschieden hätten, zu welchem McDonald’s sie gehen wollten, falls sie nicht doch das ganze Geld für ihre Schuhe ausgab.
Henny lachte, als hätte sie nicht mitbekommen, was Lotte ihr sagen wollte, und sah stur weiter aus dem Fenster.
Die erleuchteten Schaufenster in der Bygdøy Allee flimmerten in der Januardunkelheit vorbei. Die Hydraulik des Busses schnaufte und zischte bei jedem Bremsen. Bremsen, stopp, Gas geben, bremsen, Gas geben, bremsen, Gas geben, bremsen, Gas geben, bremsen, stopp.
Nächster Halt: Lapsetorvet.
Emil und Lasse saßen jetzt mit dem Rücken zu ihnen, sie unterhielten sich und lachten, Henny schnappte einen Teil ihres Gesprächs auf »... und da hat Gogge zu Fredrik gesagt, dass daraus nichts wird, du weißt schon ...«, bevor sie abschaltete.
Gogge und Fredrik gingen in ihre Klasse. Was die beiden zu sagen hatten oder taten, interessierte Henny im Augenblick nur am Rande.
Lotte saß schweigend neben ihr, kaute auf ihrem Kaugummi herum und atmete laut, ihre Daunenjacken knisterten im Takt mit den Schaukelbewegungen des Busses. War Lotte jetzt sauer, weil Henny gesagt hatte, dass sie zum McDonald’s in der Klingenberggata gehen würden? Henny überlegte gerade, ob sie Lotte darauf ansprechen sollte, als der Bus vor der roten Ampel vorm Nationaltheater bremste. Die Jungen standen auf und gingen zur Tür. Henny machte den Mund auf, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder. Lotte formte eine neue Kaugummiblase. Der Bus schob sich über die Kreuzung und bog in die Haltebucht ein. Die Türen glitten mit einem Zischen auf.
Die Jungen zogen die Reißverschlüsse ihrer Jacken hoch. Beim Aussteigen warf Emil Henny noch einen schnellen Blick zu, ehe er die Stufen hinuntersprang und verschwand.
Henny sah nicht aus dem Fenster.
Die Scheibe war sowieso beschlagen.
Lotte stieß sie wieder an. »Was sollte das denn, sag mal!« Henny zog an einer Haarsträhne an der Schläfe und wickelte sie um den Finger. Sie antwortete nicht.
»Das war nicht abgesprochen, also echt!«
Henny richtete sich auf. »Wir wussten ja auch nicht, dass wir die beiden treffen würden.«
»Nein, aber trotzdem, echt!«
»Du sagst echt ganz schön oft echt«, murmelte Henny und griff nach ihren Handschuhen.
An der nächsten Haltestelle mussten sie raus.
Glücklicherweise nahm der Schuhkauf Lotte so in Anspruch, dass sie nicht lange sauer war. Henny bemühte sich, so nett wie möglich zu sein, damit Lotte ja nicht bocken würde und sich womöglich weigerte, zum McDonald’s in der Klingenberggata zu gehen.
»Cool«, sagte sie und sah auf Lottes Füße.
»Findest du wirklich?«, fragte Lotte unsicher.
»Ja, deine Beine wirken länger darin.«
Ihre Beine waren Lottes großer Komplex, sie fand sie zu kurz. Henny war zwar nicht der Meinung, versuchte aber Lotte in solchen Dingen zu ermutigen. Ganz abgesehen davon, stimmte es tatsächlich, dass Lottes Beine in den Schuhen, die sie gerade anprobierte, länger wirkten.
»Dann nehm ich die!«, entschied Lotte. Henny seufzte erleichtert. Die Schuhe ließen nicht nur Lottes Beine länger wirken, es waren auch die billigsten von denen, die sie bisher anprobiert hatte.
Als die Verkäuferin die Schuhe eingepackt und die Summe in die Kasse eingetippt hatte, tat Henny, als würde sie jetzt eigentlich am liebsten direkt nach Hause fahren. Sie gähnte und streckte sich, und als Lotte sagte: »Und, gehen wir jetzt zum McDonald’s in der Klingenberggata?«, antwortete sie abwesend: »Okay, von mir aus.«
Sie schlenderten die Lille Grensen entlang.
Lotte schlenkerte mit der Schuhtasche. »Die waren wirklich cool, stimmt’s?«
»Sind«, sagte Henny. »Oder sind sie gestorben, nachdem du den Schuhladen verlassen hast?«
Sie lachten sich halb tot über den bekloppten Witz, und als sie beim Stortinget die Karl Johansgate überquerten, fühlte Henny sich so glücklich, als ob ein ganzer Strom Brausebläschen in ihr aufsteigen würde.
Hauptsache, Emil und Lasse waren auch da.
Waren sie.
Lotte hatte keinen Verdacht geschöpft, sie erzählte unentwegt von ihren neuen Schuhen und bemerkte Hennys ungewöhnliche Freude, die beiden Jungs aus der Parallelklasse zu treffen, gar nicht.
Henny war sich ja selbst nicht im Klaren darüber, warum sie sich so freute.
Bist du verliebt, oder was?, fragte eine innere Stimme.
Pff, antwortete sie stumm, während sie sich aus der Jacke schälte und sich linkisch auf den Platz neben Lotte plumpsen ließ.
Was war denn schon dabei, mit ein paar Jungs einen Hamburger essen zu gehen?
Draußen war es jetzt richtig dunkel, die Läden machten zu, die Neonbeleuchtung flackerte und die Zwiebeln rumorten leicht in Hennys Magen. Der Raum füllte sich mit Leuten, die in die Sieben-Uhr-Vorstellung im Saga oder Klingenberg wollten.
Lotte quasselte immer noch. Lasse hatte das Kinn auf die Hand gestützt und sah sie an, machte an den richtigen Stellen Bemerkungen und schien sich wirklich für das zu interessieren, was sie sagte. Emil malte auf seinem Teller Strichmännchen aus Tomatenketchup, während Henny unermüdlich Haarsträhnen zwirbelte.
»Warst du mal in dem Haus?«, fragte Emil sie völlig unerwartet. Henny zuckte zusammen und hätte fast ihren Colabecher umgeworfen.
»Im Geisterhaus?«, fragte sie und hätte sich dafür die Zunge abbeißen mögen.
»Nennt ihr das so?«, fragte er.
Sie zog die Schultern hoch. »Ja, als wir klein waren.«
»Klar«, sagte er und schob Pommes in den Mund, wobei ein Tropfen Ketchup auf seinem Kinn landete.
Henny sah woandershin.
»Wie lange es wohl schon leer steht?«, sagte er.
Henny schaute aus dem Fenster.
Auf dem Gehweg tobte eine Gruppe Skateboarder vorbei, wahrscheinlich waren sie auf dem Weg zum Rathausplatz, um auf den Treppenstufen auf ihren Brettern zu posieren. Ihr kamen fast die Tränen. Vor zwei Sekunden hatte sie noch überlegt, ob sie nicht vielleicht ein kleines bisschen — ja, verliebt in Emil war, und jetzt ließ dieses Gefühl schon wieder nach, weil er Ketchup am Kinn hatte. Schrecklich. Und genauso schrecklich war es, dass er jetzt auch noch von dem Haus anfing — als ob das irgendein Haus wäre und nicht der Schauplatz für mindestens die Hälfte ihrer Tagträume.
»Du hast Ketchup am Kinn!«
Das kam von Lotte. Henny wartete eine Sekunde und drehte sich dann wie zufällig um.
Der Fleck am Kinn war weg.
Lotte hatte mitbekommen, worüber sie geredet hatten, und sagte: »Die letzten Besitzer sind vor mehr als fünf Jahren ausgezogen. Hat meine Mutter gesagt.«
»Komisch,