Er hatte nur mit ihr gespielt. Ja, und sie dumme Gans hatte sich etwas darauf eingebildet, dass er mit ihr hinauf zum Fernauer Wirt gehen wollte. Wie hatte sie nur so blind sein können.
Raphael Harlander war längst ein Stadtmensch geworden. Da liefen Frauen rum, die hundertmal schöner und begehrenswerter als sie waren.
Sie erhob sich schwerfällig und nahm den Korb mit den schweren Flaschen. Traurig machte sie sich auf den Weg zum Berggasthof. Es würde ein einsamer Pfad werden, doch sie schwor sich, nie wieder einem Mann zu vertrauen.
»Johanne!«
Im ersten Augenblick glaubte sie, der Wind hätte ihr einen Streich gespielt. Trotzdem schaute sie sich um - und ihr Herz drohte, einen Schlag auszusetzen.
Raphael!, durchfuhr es sie. Fast mechanisch stellte sie den Korb neben sich und war danach wie erstarrt. Der junge Mann kam mit großen Schritten den Hang hochgelaufen. Er schien außer Atem zu sein, aber er hielt erst inne, als er schnaufend vor ihr stand und nach Atem rang.
»Ich bin ein Depp«, keuchte er. »Eigentlich wollt’ ich ja zuerst da sein, aber ich hab’ verschlafen«, log er. Noch fand er nicht den Mut, ihr zu sagen, dass er beim Frühstück von ihr geträumt und dadurch die Zeit vergessen hatte.
Johanne war überglücklich, obwohl sich das schlechte Gewissen in ihr meldete.
Wie nur hatte sie so schlecht über ihn denken können?
»Ist schon recht«, meinte sie lächelnd. »Nun müssen wir uns aber sputen.«
Wie selbstverständlich packte Raphael den Korb mit den Flaschen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Ostflanke des Falkenecks mit seinen breiten Waldgürteln und grauen Geröllhalden jenseits der Baumgrenze. Genau dort lag der kleine Berggasthof vom Fernauer Bernd. Besonders Bergtouristen und Bergsteiger suchten das einsame Haus in der Wildnis auf. Obwohl es weit ab oben in den Bergen lag, war es wegen seiner Gastlichkeit und guter Küche bei den Bergsteigern und Wanderern bestens bekannt.
Lange Zeit gingen die beiden jungen Menschen schweigend nebeneinander her. So recht mochte kein Gespräch zustandekommen. Raphael versuchte mehrere Male, Johanne etwas aus der Reserve zu locken, doch es gelang ihm nicht. Sie antwortete ihm zwar freundlich und schien glücklich, dass er mit ihr sprach. Bald aber schon schlief das Gespräch wieder ein.
Das änderte sich, als sie den Fernauer Hof über sich am Rande des Hanges sahen.
»Noch eine halbe Stunde, dann sind wir da«, meinte Johanne. »Soll ich dir den Korb net eine Weile abnehmen?«
»Warum? Sehe ich so schwach und gebrechlich aus«, scherzte Raphael und blieb stehen.
Ehe Johanne etwas erwidern konnte, erreichten sie eine enge Wegbiegung. Ein umgestürzter Baum, der quer über dem engen Pfad lag und ein kleiner Erdrutsch lenkten sie ab.
»Das sieht net gut aus«, wechselte Raphael das Thema. »Meinst du, dass du es bis darüber schaffst?«
»Warum? Sehe ich so schwach und gebrechlich aus?«, wiederholte Johanne seine Worte und schmunzelte.
Im ersten Moment war er ein wenig verwirrt, doch dann lächelte er ebenfalls.
»Auf den Mund bist du jedenfalls net gefallen«, erwiderte er amüsiert. »Also, dann gilt’s. Bleib dicht hinter mir und schau zu, dass du dich immer absicherst, bevor du dich aufs Geröll wagst.«
Er bat sie, vorzugehen. Falls Johanne ausglitt, konnte er sie vielleicht noch halten.
Vorsichtig machten sie sich daran, das Hindernis zu überwinden. Das Geröll war heimtückischer als erwartet. Es war aufgelockert und vom Regen durchwaschen. Jeder Stein konnte plötzlich unter den Schuhsohlen weggleiten.
Um ein Haar wäre es sogar passiert, als Raphael oberhalb eines großen Steines Halt suchte und sein Gewicht zu sehr darauf verlagerte. Johanne hingegen erreichte den umgestürzten Baum wie eine Berggemse ohne jegliche Schwierigkeiten. Sie hielt sich an einem der Äste fest und zog sich hoch. Der junge Mann folgte ihr in kurzem Abstand. Er half ihr, über den mächtigen Baumstamm zu klettern und tat es ihr ächzend nach. Er war froh, als sie es geschafft hatten.
»So, das hätten wir«, meinte er und stellte den Korb ab, um sich ein wenig auszuruhen.
Sie standen ganz dicht beieinander. Plötzlich schien eine Art Funken überzuspringen. Es bedurfte keiner Worte, als Raphael in Johannes Gesicht blickte.
Sie ist schön, wunderschön, dachte er und fühlte die Gänsehaut auf seinem Rücken.
Er liebte ihre Augen und die vollen Lippen, die ihn immerzu lockten, wenn er sie nur anschaute. Es war unmöglich, sich von diesem Anblick loszureißen. Es kam, was kommen musste.
Wenige Sekunden blickten sie sich an. Der Ausdruck ihrer Augen war ernst und doch voller Erwartung und Unsicherheit.
Wortlos fielen sie sich in die Arme. Ihre Lippen fanden sich zu einem sanften Kuss, der jedoch nicht enden wollte.
Vergessen war das gefährliche Hindernis in ihrem Rücken, vergessen der jahrzehntelange Zwist ihrer Väter und Großväter. In diesem Augenblick gab es nur noch sie und ihre Liebe.
»Ich liebe dich«, hauchte Raphael ihr nach einer Zeit glücklichen Schweigens ins Ohr. »Ich habe dich immer schon geliebt, aber nie gewagt, es dir zu sagen.«
Johanne hob den Kopf. Sie schmiegte sich an ihn und umklammerte ihn, als befürchte sie, ihn wieder verlieren zu können, bevor sie ihn richtig gewonnen hatte.
»Ich dich auch«, gestand sie. »Oh Gott, wie oft habe ich mir diesen Augenblick all die Jahre gewünscht.«
Wieder küssten sie sich, und die Zeit verging.
Sie hatten sich viel zu sagen und ließen nichts aus, um ihre Liebe zueinander zu beweisen. Nichts und niemand sollte sie mehr trennen. Das schworen sich beide. Nun wollten sie für immer zusammenbleiben. Auch gegen den Willen der halsstarrigen Väter, wenn es sein musste.
»Wir müssen uns sputen«, riss Johanne ihren Geliebten aus seinen Träumen. »Der Fernauer wartet auf mich. Der Vater wird garstig werden, wenn er sich wegen der späten Lieferung bei ihm beschwert.«
Raphael lächelte. Zärtlich nahm er sie in den Arm und küsste ihre Stirn, während seine Hände über ihren Rücken strichen.
»Nix wird dir geschehen«, versprach er. »Dafür werd’ ich schon sorgen, Schatzerl. Aber recht hast du schon. Wir sollten uns beeilen, denn schau, drüben über dem >Krähenhorst<, da braut sich wieder ein Unwetter zusammen. Gut schaut’s net aus, wenn du mich fragst.«
Nun sah auch Johanne die dunklen Wolken, die sich über den Bergmassiven im Westen zusammenballten und an den Graten und Felsspitzen festzukrallen schienen. Zudem war es merklich kühler und windiger geworden.
Hand in Hand folgten sie dem schmalen Pfad, der sich immer mehr in die Höhe schraubte. Die Luft wurde dünner und der Marsch anstrengender.
Aber sie schafften es, den einsamen Berggasthof vor dem ersten Regen zu erreichen.
Gerade hatten sie die breite Terrasse vor dem Haus betreten, als die ersten Tropfen fielen. Rasch traten sie in die gemütlich eingerichtete Gaststätte.
»Ach, da bist ja, Johanne«, wurde die junge Frau von einem hageren Mann mit weißem Haarkranz begrüßt. Ein gleichfarbiger Bart schmückte sein Gesicht. Der Fernauer Bernd, der hinter dem Tresen Gläser geputzt hatte, trocknete seine Hände und kam hinter seinem Arbeitsplatz hervor. Ein strahlendes Lächeln lag auf dem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht.
Niemand wusste, wie alt er war. Äußerlich musste er weit über achtzig sein, doch das weiße Haar und der lange Bart trogen. In den blauen Augen blitzte das Leben.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Johanne, als der Wirt den Korb mit den Flaschen