Aus den Akten der Agence O. Georges Simenon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georges Simenon
Издательство: Bookwire
Серия: Red Eye
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701866
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Sie, Monsieur Émile …«

      »Was?«

      »Wenn Sie könnten, würden Sie mich dann festnehmen?«

      Die Unterlippe der jungen Dame zittert. Sie fühlt sich schön. Zwischen den Flaschen hindurch kann sie sich im Spiegel hinter der Bar sehen. Ihre Augen glänzen, ihre Lippen beben. Und zeigt ihr Begleiter, der neben ihr sitzt, nicht sogar ein bisschen Interesse an ihr?

      Sie erwartet seine Antwort, ihre Finger haben sich verkrampft. Und die Antwort kommt prompt wie ein Schlag ins Gesicht.

      »Ohne mit der Wimper zu zucken.«

      »Haben Sie denn überhaupt kein Herz?«

      »Mein Vater, Mademoiselle, wurde umgebracht, und zwar von … Ach, vergessen Sie’s, das ist nicht die Art von Geschichte, die man in so einem Rahmen erzählt. Aber ich möchte noch was hinzufügen, wenn es Sie davon abhält, eine Dummheit zu begehen. Falls Sie vorhaben, mich abzuschütteln, hätte ich keine Bedenken, Sie ins Bein zu schießen – und in ein sehr schönes obendrein. So sehr bin ich davon überzeugt, dass Sie in die Einbrüche verwickelt sind, die …«

      »Schwein!«, faucht sie und tritt ihm gegen das Schienbein.

      »Und jetzt«, fragt er, »ziehen wir uns zum Abendessen um, oder nicht? Soll ich meine Mutter anrufen, damit sie meinen Smoking zurechtlegt, oder …«

      »Sie haben doch sicher nicht vor, in meinem Zimmer zu bleiben, während ich mich umziehe.«

      »Unglücklicherweise habe ich genau das vor. Aber wenn Sie es wünschen, können Sie mich hinter einen Paravent in die Ecke neben der Tür verbannen.«

      Fünf Minuten später befinden sie sich im Hotelfahrstuhl auf dem Weg nach oben zur Suite 125.

      III Wo Torrence eine Entdeckung macht und eine junge Dame plötzlich so gesprächig wird, wie es sich ein Detektiv nur wünschen kann

      Maman, sei bitte so gut und behalte die Mademoiselle im Auge, während ich mich umziehe«, sagt Émile. »Und pass auf, dass Sie nicht rausgeht oder mit jemandem spricht, mit wem auch immer …«

      Es ist eine gemütliche Wohnung am Boulevard Raspail und so bürgerlich, wie man es sich nur vorstellen kann. Émiles Mutter ist so klein, wie er groß ist, und mit Sicherheit war ihr jetzt ergrautes Haar niemals rot.

      Als ob es das Natürlichste auf der Welt wäre, hat er ihr seine Waffe in die Hand gedrückt. Sie verhält sich, als hätte sie es gar nicht bemerkt. Sie lächelt ihre Besucherin an und behandelt sie mit äußerster Höflichkeit, ohne auch nur einen Funken Ironie.

      »Nehmen Sie bitte Platz, Mademoiselle. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? So, Sie sind also eine Freundin von Émile …«

      Fünf Minuten später ist er fertig, küsst seine Mutter auf beide Wangen, nimmt ihr die Waffe wieder ab und steckt sie in die Tasche.

      »Wenn Sie bereit sind, können wir gehen«, sagt er.

      Wenig später betreten sie das Pélican in der Rue de Clichy, wo zwischen den Tischen bereits einige Paare zu den Klängen einer kubanischen Band tanzen. Émile hat seine Schüchternheit nicht abgelegt, dennoch bestellt er das Essen wie ein Connaisseur.

      »Würden Sie den Herrn dort drüben bitte zu mir herüberbitten?«, fragt er den Kellner.

      Der Herr ist Torrence, der, ebenfalls im Smoking, mit übermäßig gestärkter Hemdbrust und knallrotem Kopf an einem kleinen Tisch auf der anderen Seite der Tanzfläche sitzt.

      »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, Mademoiselle«, sagt Émile und steht auf, ohne sie jedoch aus den Augen zu lassen. Er und Torrence bleiben ein paar Schritte von ihr entfernt stehen.

      »Ich habe deine Anweisungen befolgt«, berichtet ihm Torrence. »Ich habe mit den besseren Hotels angefangen, die nicht zu luxuriös wirkten. Ich habe allen Portiers das Bild unserer Mademoiselle gezeigt …

      Im sechsten Hotel, dem Majestic in der Avenue Friedland, haben sie recht überrascht reagiert.

      ›Ich dachte, sie wäre oben in ihrem Zimmer‹, hat der Mann an der Rezeption gesagt.

      Er hat oben angerufen.

      ›Komisch!‹, hat er gesagt. ›Jetzt merke ich gerade, dass ihr Bruder auch ausgegangen ist. Er müsste aber jede Minute zurückkommen.‹«

      Und Torrence fährt fort:

      »Ich habe ihn gebeten, das gesamte Personal des Stockwerks zu versammeln. Das Paar hat sich als Dolly und James Morrison aus Philadelphia eingetragen. Die Frau wohnt in Zimmer 45, der junge Mann in Zimmer 47. Dazwischen gibt es eine Verbindungstür. Soweit ich rausfinden konnte, hat James Morrison recht unregelmäßige Gewohnheiten, gestern Nacht hat er nicht im Hotel geschlafen, und seitdem haben sie ihn auch nicht mehr gesehen.«

      »Irgendwelches Gepäck?«, fragt Émile.

      »Ich habe mich nicht getraut, vor dem ganzen Stab danach zu fragen. Also hab ich Zimmer 43 genommen und ihnen gesagt, ich hätte meinen persönlichen Kammerdiener dabei.«

      Mit einem Augenzwinkern gibt Torrence zu erkennen, dass der besagte Diener kein anderer ist als der struppige Barbet und dass dieser im Moment wahrscheinlich damit beschäftigt ist, die benachbarten Zimmer zu durchstöbern.

      »Sobald du etwas hörst, lass es mich wissen«, sagt Émile. »Hier oder woanders. Wenn wir das Pélican verlassen, hinterlasse ich eine Nachricht.«

      »Entschuldigen Sie, Mademoiselle Morrison«, sagt er, als er an den Tisch zurückkehrt. »Wie Sie sehen konnten, musste ich meinem Chef ein paar Instruktionen geben. Ist der Kaviar wenigstens frisch?«

      Sie scheint von dem, was er gerade herausgefunden hat, nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Allerdings reißt sie die Augen auf, als er hinzufügt:

      »Torrence verspricht sich ein aufschlussreiches Gespräch mit Ihrem Bruder James heute Abend …«

      »Tut er das?«

      »In diesem Augenblick hat einer unserer Freunde James im Schlepptau. Torrence wird zu ihnen stoßen, und ich bin überzeugt, dass uns Ihr Bruder bereitwillig einige Erklärungen geben wird …«

      Sie sieht auf ihren Teller.

      »Armer Jim!«, sagt sie seufzend.

      »Es könnte tatsächlich unangenehm für ihn werden. Noch ein wenig Kaviar? Etwas Zitrone?«

      »Hören Sie, Monsieur Émile.«

      Sie ist nervös und gereizt.

      »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so schnell vorankommen … Ich verstehe nicht, wie mein Bruder so unvorsichtig sein konnte und … Aber lassen Sie mich Ihnen zuerst eine Frage stellen. Was haben Sie eigentlich mit diesem Fall zu tun?«

      »Eine der größten Versicherungsgesellschaften, die schon seit Langem zu unserer Kundschaft gehört, hat uns beauftragt, den Schmuck zurückzuholen, der bei den dreizehn Einbrüchen der vergangenen Monate entwendet wurde.«

      »Das ist alles?«

      »Wie meinen Sie das?«

      »Ich meine, dass Sie, da Sie nicht zur Polizei gehören, auch nicht verpflichtet sind, ihr den Täter auszuliefern, oder?«

      Weder die Paare, die an ihrem Tisch vorbeitanzen, noch die anderen, die an ihren Tischen sitzen, können den Inhalt dieses Gesprächs erahnen, das mit gespitzten Lippen fortgeführt wird.

      »Mein Bruder ist ein Dummkopf«, sagt die junge Frau. »Ich war sicher, dass er uns früher oder später in eine solche Situation bringen würde. Erst heute Morgen. Ich musste es selbst in die Hand nehmen, das markierte Taschentuch zurückzubekommen.«

      »Wie wär’s mit einem Tanz?«, fragt Émile, sehr zur Überraschung seiner Begleiterin.

      Aber noch überraschender ist die Tatsache, dass er ein ganz ausgezeichneter Tänzer ist. Sie setzen