Durch Kemp kam Bowie in Kontakt mit vielen Dingen, die sich später in seiner Musik und seinen Auftritten wiederfinden würden, von Kabuki bis Genet. Flowers, die 1968 aufgeführte Interpretation der Kemp-Truppe von Genets Notre Dame des Fleurs – laut dem Journalisten Rupert Smith eine »halluzinogene Erzählung über Drag Queens, Zuhälter, Mörder und Matrosen« –, wurde eine der berühmtesten Darbietungen der Truppe: »gewalttätig, einer Orgie ähnelnd, konstant an der Grenze zum Bathos* und ganz und gar homosexuell«. Kemp vervollständigte Bowies Schulung in schwulem Ästhetizismus, die Kenneth Pitt angefangen hatte, als er den Sänger mit Oscar Wilde, Aubrey Beardsley und den Romanen Christopher Isherwoods aus dessen Zeit im Berlin der Weimarer Republik in Kontakt brachte.
Unter Kemps Anleitung lernte Bowie, seine körperliche Präsenz zu nutzen, um das Publikum in seinen Bann zu ziehen. »Ich habe David beigebracht, seinen Körper zu befreien«, erzählte Kemp dem Magazin Crawdaddy 1974. »Ich habe ihm beigebracht, sowohl seinen Körper als auch seine Stimme zu überbetonen … Seitdem er mit mir zusammengearbeitet hat, macht er das. Mit jedem Auftritt […] werden seine Bewegungen erlesener. […] Ein Pantomime nutzt Gestik, um seine innere Schönheit zu offenbaren. […] Bowie tut das mit seiner Stimme.«
Kemp half auch, die äußere Schönheit des immer noch schüchternen Sängers aufzupolieren. Nova Magazine erzählte er: »Ich wusste, wie wunderschön er war, doch ich wollte, dass es auch andere Leute erkannten. Ich musste ihn dazu drängen. Ich bemalte sein Gesicht und färbte seine Haare, damit er auffallen würde, […] damit die Leute sehen würden, wie sexy und schön er war.«
Kemps Erzählungen sind vermutlich etwas übertrieben – Bowie war sich der Wirkung seines Aussehens sehr wohl bereits bewusst. Sie hegen auch eine gewisse Ähnlichkeit zu »I’ll Be Your Mirror«, dem Velvet-Underground-Song aus der Feder Lou Reeds, gesungen von Nico. Das gilt vor allem für die Zeilen, nicht glauben zu können, dass sich das Gegenüber seiner Schönheit nicht bewusst ist (»you don’t know the beauty you are«) und das Versprechen, nur die Wahrheit zu spiegeln. Bowie war dank Kenneth Pitt einer der ersten Briten, die diesen Song und das Debütalbum, auf dem er erschien (The Velvet Underground & Nico, 1967), gehört hatten. Pitt hatte Andy Warhols Factory auf einer Geschäftsreise nach New York im November 1966 besucht und dort eine Promo-Pressung der Velvet-Underground-LP bekommen. Songs und Musik dieser Band würden – gemeinsam mit dem dekadenten Camp-Milieu, das sich um Bandmentor Warhol formiert hatte – großen Einfluss auf Bowies Musik und Image in den 1970ern ausüben. 1968 jedoch spielte er mit dem Gedanken, das Musikbusiness hinter sich zu lassen und Tänzer zu werden.
»The Mirror« war dann auch der Titel eines neuen Songs, den Bowie für Pierrot in Turquoise geschrieben hatte, als es Anfang 1970 unter dem Titel Pierrot in Turquoise, or, the Looking Glass Murders für das schottische Fernsehen adaptiert wurde. Eigentlich hatte Bowie zu diesem Zeitpunkt keinen Kontakt mehr zu Kemp, den er mit einer der Tänzerinnen seiner Truppe betrogen hatte. Doch für das halbstündige TV-Special schlüpfte er wieder in die Rolle des Erzählers. In »The Mirror« werden Bowies Zeilen über den »fröhlichen Harlekin«*, einen »Feen-Troubadour« und einen Spiegel, der »von dir besessen« ist, von einem surrealen Spektakel untermalt, in dem der Harlekin in einem Balztanz mit Columbine durch ein traumähnliches Set voller nackter, armloser Schaufensterpuppen und Stehleitern umherspringt. Der Harlekin hat eine Glatze, ist schwarz und nackt – mit Ausnahme seiner goldenen Ohrringe, seinen glitterverkrusteten Augen und dem bizarr anmutenden Unterteil eines Gymnastikanzugs, das aussieht, als trage er Hosenträger an einer Badehose. Columbine hat manische Augen, eine entsprechende Frisur und trägt ein grünes Kleid mit zerzausten Ärmeln. Bowie als Erzähler ist kurz über einer der Stehleitern zu sehen, sein Gesicht schneeweiß, seine Haare wuschelig und mit Puder bestreut. Schließlich zoomt die Kamera hinaus, der Harlekin und Columbine sind durch das Bühnenportal eingerahmt. Der Vorhang schließt und öffnet sich, dazu wird Applaus eingespielt und das Gemälde eines viktorianischen Theaterpublikums gezeigt.
Die Maske ist ein zentrales Element der Pantomime: Die weiße Theaterschminke entpersonalisiert und ersetzt individuelle Gesichtsmerkmale durch eine leere Leinwand, auf der sich stilisierte Emotionen abbilden lassen, deren Darstellung universellen, zeitlosen Regeln folgt. In der Pantomime geht es darum, seinem eigentlichen Selbst zu entfliehen und dafür in das Kostüm einer fiktiven Persona zu schlüpfen. Ihre Vorfahren sind das mittelalterliche stumme Spiel, Maskenspiele und Mummenschanz, weitere Parallelen gibt es zu den japanischen Formen Noh und Kabuki. Auch in die Popkultur des 20. Jahrhunderts sickerte sie mit tragikomischen Stummfilmstars wie Buster Keaton durch. Pantomime ist die reinste und essentiellste Form des Theaters. Im Deutschen gibt es ein Wort dafür: Maskenfreiheit. Diese Befreiung von der Last, sein wahres Ich auf der Bühne darstellen zu müssen – würde für Bowies weitere Karriere von entscheidender Bedeutung sein.
Gegen Ende seiner Zeit mit Kemp schrieb Bowie ein Pantomime-Stück mit dem Titel »The Mask«, das später als Segment in einem Promofilm verwendet wurde, den Kenneth Pitt Anfang 1969 finanzierte, um die stagnierende Karriere seines Schützlings voranzubringen. Darin spielt Bowie in einer Aufmachung, die der Marcel Marceaus ähnelt, einen jungen Mann, der eine Maske in einem Trödelladen entdeckt. Ursprünglich ist sie nur zur Unterhaltung von Familie und Freunden gedacht, doch bald findet der Junge heraus, dass es eine Karriere ist, die er da in den Händen hält. Auf dem Höhepunkt seiner folgenden Laufbahn – einem Konzert im Londoner Palladium – stellt er zu seinem Grauen fest, dass er das steife Grinsen seiner Bühnenpersona nicht mehr abnehmen kann. Elendig dreht und windet er sich im Scheinwerferlicht, bis ihn schließlich der Tod erlöst. Aus dem Off kommentiert Bowie trocken: »Die Zeitungen machten eine große Sache aus dem Vorfall. […] ›Auf der Bühne erwürgt‹, hieß es. […] Seltsamerweise […] erwähnten sie die Maske mit keinem Wort.« Zwar wirken Bowies marionettenartige Bewegungen ungeschickt, dennoch ist »The Mask« ein bemerkenswert selbstkritischer Vorblick auf den Preis von Ruhm und den entwurzelnden Effekt, den ein öffentliches Image mit sich bringt.
»Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er für sich selbst spricht. Gib ihm eine Maske und er wird dir die Wahrheit sagen«, verkündete Oscar Wilde in »Der Kritiker als Künstler«, neben »Der Verfall des Lügens« und »Die Wahrheit der Masken« eines seiner berühmtesten ästhetischen Manifeste. Wilde ist der erste Philosoph des Glam, dessen Grundsätze er achtzig Jahre vorher postulierte. Nicht nur mit seinen Essays, sondern vor allem mit Das Bildnis des Dorian Gray, das weniger ein Roman ist als vielmehr ein Gerüst, das Wilde mit seinen Theorien und Standpunkten zur Ästhetik in Form exzellent ausgearbeiteter, beißend schlagfertiger Epigramme und Aphorismen füllt. Hauptsächlich geschieht das durch Lord Henry, eine Figur, die Wilde nutzt, um seine Abscheu vor Authentizität und Natürlichkeit zu formulieren, die für ihn ermüdender Humbug sind: »Natürlich zu sein, ist nichts als Pose, die irritierendste Pose, die ich kenne«; »der Wert einer Idee hat absolut nichts mit der Aufrichtigkeit des Mannes zu tun, der ihr Ausdruck gibt«. Theatralität und Fassaden des gesellschaftlichen Lebens hingegen zelebriert er: »Nur geistlose Leute beurteilen Andere nicht nach deren Auftreten«; »Ich liebe das Schauspiel. Es ist so viel echter als das Leben.«
Bowies komplette Karriere – und das misstrauische Nörgeln seiner Kritiker – nimmt Wilde mit einer rhetorischen Frage vorweg: »Ist Unaufrichtigkeit denn so etwas Schreckliches? Ich denke, nicht. Sie ist nichts weiter als eine Methode, mit der wir unsere Persönlichkeiten vervielfachen können.« Doch was Wilde wirklich zum Propheten des Glam macht, sind nicht einmal so sehr seine stichfest geschlussfolgerten Paradoxe und schelmischen Umkehrungen dessen, was als gesunder Menschenverstand gilt, als vielmehr der Irrationalismus, der unter der Oberfläche hervortritt wie berauschende Dämpfe. Das Bildnis des Dorian Gray ist ein heidnischer Lobgesang auf den Kult um Jugend und Schönheit, seine blasphemische Note kaum zu übersehen. »Du wurdest erschaffen, um verehrt zu werden«, sagt Basil, der Künstler, dem zarten Dorian. Der Text ist voll von Wörtern wie »Gift« (im Sinne von »Rauschmittel«) und »Einfluss« (als etwas Hinterhältiges,