Von welchem Ausgangspunkt, das lässt sich gut 270 Kilometer von dem Friseursalon im Kölner Westen entfernt, in dem Schäfer häufig sitzt, feststellen: Horst Eckel öffnet die Tür zu seinem Haus in Vogelbach, einer Ortsgemeinde von Bruchmühlbach-Miesau in der Pfalz. Es ist ein kleines Dorf, in dem nicht nur die Geldautomaten ausgeschildert sind, sondern – sozusagen als Kontrast – auch die französische Hauptstadt. Bis Paris seien es 430 Kilometer, zeigt das Verkehrsschild an. Sein ganzes Leben hat Eckel hier verbracht. Hoch oben, über dem Dorf, liegt der Fußballplatz des SC Vogelbach, Eckels erstem Verein. Idyllisch, mitten im Wald. Im Jahr 1985 haben sie Eckel hier eine Gedächtnisbuche hingestellt. Und normalerweise fährt er für Interviews hoch in die Vereinsgaststätte. Dann muss man unten klingeln, „ihren Mann abholen“, wie Hannelore Eckel sagt, die sich um die Termine kümmert. Doch heute könne das Gespräch auch zuhause stattfinden. Im 60. Jahr nach dem „Wunder von Bern“ mehren sich mal wieder die Interview-Anfragen. Eckel trägt einen braunen Rollkragenpullover, an seiner linken Hand glänzt der goldene Siegel-Ring des 1. FC Kaiserslautern. Dazu eine Uhr für den WM-Erfolg.
Schäfers Schweigen macht Eckel zu „so etwas wie den inoffiziellen Nachlassverwalter des ‚Wunders von Bern‘“, stellte die Berliner Zeitung fest. Dabei sind ihre Herkunft und ihr Lebensweg jeweils typisch für die damalige Zeit: Ähnlich wie Schäfer blieb Eckel seinem Verein – dem 1. FC Kaiserslautern – immer verbunden. Ähnlich wie Schäfer lebte Eckel sein ganzes Leben an einem Ort. Und ähnlich wie Schäfer lernte Eckel nach der Karriere einen Beruf (Realschullehrer) und arbeitete darin. Während der WM 1954 teilten sich die beiden ein Zimmer, doch der Kontakt zueinander ist abgerissen. Schade findet Eckel das. Und auch der Umgang mit dem WM-Erfolg könnte nicht unterschiedlicher sein: Während Schäfer schweigt, sich mithilfe einer Telefon-Geheimnummer von der Öffentlichkeit abschottet und auf Anfragen knurrig reagiert, gibt Eckel bereitwillig Interviews, geht weiterhin zu Benefiz-Spielen und betreibt sogar einen eigenen Twitter-Account.
„Die Arbeit mit Kindern hat mir mehr bedeutet als das Sportliche“
Durch seine Erzählungen lässt sich erahnen, woher das heutige Massengeschäft Fußball einst kam: Zweimal die Woche hätten sie damals trainiert, erinnert sich Eckel. Die monatliche Obergrenze für die Bezahlung der Fußballer lag bei 320 DM, für den WM-Titel 1954 gab es 500 DM und einen Fernseher. 60 Jahre später waren es 300.000 Euro – pro Spieler. Anders als Schäfer hadert Eckel nicht mit diesen Summen: Wenn er heute noch spielen würde, hatte Schäfer, der als erster deutscher Spieler an drei Weltmeisterschaften teilnahm, immer mal wieder im Friseursalon gegrummelt, dann hätte er hunderte Millionen an Euro verdient. Ob realistisch oder nicht, für Eckel ist dies ohnehin zweitrangig. Denn das „Wunder von Bern“ war ihm zwar wichtig, noch schöner sei aber seine Zeit als Lehrer gewesen: „Die Arbeit mit Kindern hat mir mehr bedeutet als das Sportliche“, so Eckel. „Wenn ich sehen konnte, wie sich die Schüler entwickelt haben, was aus ihnen geworden ist.“ Werte weiterzugeben, bedeutet ihm viel. Und dennoch, bei allem Engagement: Auch Eckel merkt das Alter. Auch ihm wird der Trubel ein wenig zu viel. Weil Schäfer ja schweigt, fragen alle ihn, den damals Jüngsten, nach den alten Geschichten. Und Eckel erzählt. Wieder. Und immer wieder. Und obwohl er dies schon unzählige Male gemacht hat, nimmt er sich jedes Mal Zeit. Der WM-Erfolg von Bern war und ist für ihn auch eine Aufgabe – genauso wie Autogrammwünsche, bei denen er sich auch heute noch, sechs Jahrzehnte später, alle Mühe gibt. „Ohne Brille“, sagt er, an seinem Wohnzimmertisch sitzend, während er seinen Namen auf sein Bild schreibt: „Ich denke, das kann man gut lesen.“ Er blickt auf sein Werk: „Eckel“, steht da, leicht geschwungen, mit einem schwarzen, dicken Edding geschrieben. Wenige Minuten vorher hatte Eckel noch extra zwei Stifte auf einem Papier ausprobiert. „Autogramme muss man lesen können“, sagt er und blickt auf. „Was sollen die Leute sonst damit?“ Wenn er das bei den heutigen Bundesliga-Profis und Nationalspielern manchmal sehe, entfährt es ihm mit einem Kopfschütteln, „die machen einfach einen Haken“. Er fährt durch die Luft: „Das war’s.“ Er schüttelt wieder den Kopf: „Das hätten wir uns früher erlauben sollen.“ Seinen Namen ordentlich zu schreiben, sei eine Anweisung von Sepp Herberger gewesen, so Eckel, „und auch Fritz Walter hat immer darauf geachtet“.
Wie stark sich die Lebensumstände eines Fußball-Weltmeisters in 60 Jahren verändert haben, lässt sich aber nicht nur an den Autogrammen der Profis ablesen, nicht nur an Eckels Erzählungen, sondern auch an einer kleinen Begebenheit auf dem Weg zum WMTurnier nach Brasilien. Denn im Herbst 2013 qualifizierte sich die deutsche Mannschaft mit einem 3:0-Sieg über Irland in Schäfers Heimatstadt Köln für die Endrunde. Die Spieler bekamen daraufhin kurzfristig zwei Tage frei, woraufhin das DFB-eigene Reisebüro fast überrannt wurde. Und während die Spieler für anderthalb Tage von Köln nach London, München oder Madrid flogen, zeigt dies den Kontrast zu den Umständen 60 Jahre vorher. Denn vor dem Viertelfinale der WM 1954 gegen Jugoslawien hatte Hans Schäfer einst seine Frau angerufen: Sie solle in die Schweiz kommen. Schäfers Begründung: Gegen Jugoslawien seien sie chancenlos, würden ausscheiden und könnten anschließend gemeinsam in den Urlaub weiterfahren. „Wir verdienten damals nicht so viel Geld, dass wir hin- und herfahren konnten“, so Schäfer. Eine gute Idee, die aber doch scheiterte. Deutschland gewann, wurde Weltmeister – und das Volk wollte seine Helden sehen. Die Schäfers mussten zurück nach Deutschland. Ohne Urlaub.
„Es war einmal ein Spiel“: Vom Massenphänomen zur Geldmaschine
„Früher saßen die reichen Leute auf der Tribüne. Heute sitzen die armen oder nicht so bemittelten Leute auf der Tribüne, während die Millionäre unten auf dem Rasen rumlaufen.“
(Fritz Pleitgen, ehemaliger Intendant des WDR)
„Ich sehe noch keine Sättigung für die Marke der Nationalmannschaft. Ich sehe noch keine Sättigung für den Fußball. Insofern gibt es noch viele spannende Projekte.“
(Oliver Bierhoff, Manager der deutschen Fußball-Nationalmannschaft)
Jan Lehmann sitzt in der „Sky-Box“, in der 2. Etage eines Bürogebäudes in Köln. Es ist ein Besprechungsraum des Unternehmens Nielsen Sports. Von hier kümmert sich die Marktforschungs- und Beratungsfirma um Themen aus dem Sport, seien es Sponsoring-Daten, TV-Reichweiten oder die Einstellungen von Sportfans. Lehmann, braune Haare, graue Hose, hellblaues Hemd, hat einst Wirtschaftswissenschaften studiert, anschließend promoviert und beim Sportrechtevermarkter Infront Sports & Media in der Schweiz sowie als Unternehmensberater bei McKinsey & Company in Köln gearbeitet. Dann wechselte er zur DFL nach Frankfurt am Main und verantwortete dort das Produktmanagement und das strategische Marketing der Bundesliga. Auf der Suche nach der gesellschaftlichen Bedeutung des Fußballs und dessen rasanter Entwicklung ist Lehmann, selbst großer Fußballfan, ein guter Ansprechpartner. Denn: Er kann den Fußball in Zahlen fassen. Beispielsweise beim Trikotsponsoring. Die Einnahmen daraus stiegen in der Bundesliga von umgerechnet 80.000 Euro in der Saison 1972/73 auf knapp 182 Millionen Euro in der Saison 2016/17. Bekam Bayern München in der Spielzeit 1981/82 umgerechnet rund 380.000 Euro von Iveco, so bezahlte die Telekom in der Saison 2007/08 20 Millionen pro Jahr. Zuschauerzahlen? Von durchschnittlich 19.765 Besuchern in der Spielzeit 1989/90 stieg der Schnitt auf 42.421 in der Saison 2015/16. Ein Plus von 115 Prozent. Oder das aktuelle Sponsoring-Volumen: Die 100 größten Sportsponsoren in Deutschland zahlten in der Saison 2014/15 973 Millionen Euro – wovon 71 Prozent in den Fußball flossen.
Lehmann verweist auch auf den sogenannten Bundesliga-Report sowie die Studie „Wirtschaft sfaktor Bundesliga“. Letzteres ist ein Zusammenspiel seiner ehemaligen Arbeitgeber: McKinsey erstellte für die Saison 2013/14 im Auft rag der DFL eine viel zitierte Studie. Demnach sorgte das „System Profifußball“, wie es in dem Bericht heißt,