Die historische Jesusforschung: eine Suche
Geschichtswissenschaft ist eine besondere Wissenschaft, denn sie hat zu ihrem Forschungsgegenstand keinen direkten Zugriff. Man kann die Vergangenheit nicht wiederholen oder in ihr zurückreisen und sie genauer untersuchen. Man kann lediglich Spuren der Vergangenheit zusammentragen und diese deuten. Geschichte ist daher immer nur ein Interpretieren oder ein Nacherzählen von Vergangenem. Geschichte ist eine Rekonstruktion, sie produziert im strengen Sinn keine Fakten.
Wenn es darum geht, Methoden aus der Geschichtswissenschaft für Fragen des Glaubens zu nutzen, so gilt dasselbe: Auch mithilfe der historischen Forschung kann man zu keinem abschließenden Ergebnis kommen. Es kann keinen historischen Beweis dafür geben, wer Jesus war und was man über Jesus genau wissen kann. Dennoch ist die historische Forschung aus der Theologie nicht wegzudenken. Sie hat entscheidende Beiträge geleistet, die in der christlichen Theologie zu wichtigen Erkenntnissen geführt haben. Man spricht hier von der Suche nach dem historischen Jesus.
Die erste Suche
Mit Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768) gewinnt in der Jesusforschung eine grundlegende Unterscheidung an Bedeutung: der historische Jesus, wie er tatsächlich lebte und handelte, auf der einen Seite und der Jesus des Glaubens, wie er von seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern erinnert, geglaubt, gedeutet und bekannt wurde, auf der anderen Seite. Reimarus machte deutlich, dass die Texte des Neuen Testaments hier ein Glaubenszeugnis darstellen würden, keine historischen Berichte, und sie den historischen Jesus übermalt hätten. Man müsse ihn also mithilfe von Methoden der Geschichtswissenschaft „freilegen“, indem man unter die Farbschichten der Bibeltexte sehe. Theologen wie David Strauss und später Rudolf Bultmann gingen dabei so vor, dass sie Jesu Wunder und andere übernatürliche Phänomene als Mythen deuteten. Die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu hätten Erlebnisse mit Jesus wiedergegeben und dabei natürliche Ereignisse übermäßig aufgebauscht. Auch viele Aussagen Jesu wurden nun hinterfragt: Konnten sie wirklich vom historischen Jesus stammen? Es ging so weit, dass einige sogar der Meinung waren, dass es nie einen historischen Jesus gegeben habe. Die Suche nach ihm geriet ins Stocken und man nahm an, dass es unmöglich sei, gesicherte Aussagen machen zu können. Der historische Jesus galt als Unbekannter.
Die zweite Suche
Mit dem Theologen Ernst Käsemann wurde das ab den 1950er Jahren wieder anders. Er glaubte, dass man über den historischen Jesus mithilfe systematischer Methoden der Geschichtswissenschaft sehr wohl gesicherte Erkenntnisse gewinnen könne. Man könne z. B. die biblischen Berichte mit den geschichtlichen Erkenntnissen über das Judentum der Zeit Jesu vergleichen. Käsemann nahm an, dass Jesus das Judentum seiner Zeit reformiert habe. Wo also Unterschiede zwischen dem Jesus der Evangelien und dem Judentum seiner Zeit auszumachen seien, da könne man gesicherte Aussagen über den historischen Jesus machen. Man müsse sich demnach mit dem Judentum auseinandersetzen. Die entscheidende Feststellung war damals also: Jesus war Jude. Das hatte die deutschsprachige Theologie zuvor unter den Tisch fallen lassen. Im Nationalsozialismus gab es eine weit verbreitete Ausprägung, die den Glauben an Jesus mit der Verfolgung von und dem Massenmord an Jüdinnen und Juden zusammendenken konnte und Jesus zum Arier machte.2 Die historische Jesusforschung betonte nun aber, dass Jesus Jude war und nur der jüdische Kontext Jesus verständlich machen könne.
Die dritte Suche
In diese Richtung gehen Theologen wie Ed Parish Sanders (*1937) und Nicolas Thomas Wright (*1948). Sie setzen sich stark mit dem Judentum des 1. Jahrhunderts n. Chr. auseinander und zeigen auf, dass in der westlichen Theologie schwerwiegende Missverständnisse über das Judentum verbreitet waren. Beispielsweise hinterfragen sie die Annahme, dass im Judentum Rettung durch das Halten von Geboten komme – während im Christentum die Rettung ein Geschenk aus Gnade sei. Auch das Judentum basiere auf Gnade, nicht auf Werken. Ihre Erkenntnisse über das Judentum nutzten diese Theologen, um Jesus auch anhand außerbiblischer und jüdischer Quellen in seinem historischen Kontext neu zu fassen.
Eine andere Fragestellung
War in den altkirchlichen Bekenntnissen die Frage noch: Wie können Gott und Mensch in Jesus eine Einheit bilden?, so fasste man ab dem 18. Jahrhundert dieses Problem in etwas andere Worte: Wie konnte Gott in Jesus gegenwärtig sein?
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 – 1834) hat in dieser Weise über Jesus nachgedacht. Für ihn war Jesus ein Mensch, der ein „vollkräftiges Gottesbewusstsein“3 von Gott hatte. Dieses habe ihn in jedem Moment seines Lebens durchdrungen und geprägt. Jesus habe Gottes Gegenwart ständig gespürt, dieser Raum gegeben und sein Handeln von ihr bestimmen lassen. Auf diese Weise sei Gott in Jesus und durch ihn auch in der Welt besonders und einzigartig anwesend gewesen. Schleiermacher beschreibt Jesus als einen Menschen, der sich nicht kategorisch von allen anderen Menschen unterschieden habe, sondern in der Qualität seiner Beziehung zu Gott. Es spricht in der Tat einiges dafür, dass der historische Jesus ein besonderes Erlebnis mit Gott gehabt haben muss, das sein Leben entscheidend beeinflusst hat. Man kann das unter anderem daran festmachen, dass Jesus Gott als „Abba“ angeredet hat (z. B. Mk 14,36). Jesus hat zu Gott „Papi“ gesagt. Es war im Judentum nicht unbekannt, von Gott als Vater zu reden, aber die aus der Kindersprache stammende Formulierung „Abba“ ist sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit gewesen. Das hat Jesus laut Schleiermacher ausgezeichnet.
Welche Hautfarbe hatte Jesus?
Der afroamerikanische Theologe James H. Cone (1938 – 2018) veröffentlichte eine bis dahin in der westlichen Theologie nicht wahrgenommene Sicht auf Jesus. In „The Cross and the Lynching Tree“ konfrontierte er die Theologie mit einem krassen Widerspruch: Wie konnte es sein, dass Schwarze bis in die 1950er Jahre öffentlich an Lynchbäumen aufgehängt und ermordet wurden und sogar Schulen dafür ihren Unterricht ausfallen ließen – und man zeitgleich in den Gottesdiensten einen Jesus anbeten würde, der von Menschen „an das Holz gehängt und getötet“4 worden war?
Cone machte deutlich, dass der Jesus der Bibel in der westlichen Theologie durch die Vorherrschaft der Weißen zur Unkenntlichkeit übermalt worden sei. Weiße Theologinnen und Theologen hätten Jesus und seine Botschaft über das Reich Gottes und seine Lehre über Armut umgedeutet. Diese falsche Interpretation führe dazu, dass Unterdrückende durch das Evangelium keinerlei Bedrohung verspüren würden und keinen Widerspruch zwischen dem christlichen Evangelium und Reichtum erkennen könnten.
Er setzte hier die Sicht eines „Schwarzen Jesus“ entgegen. Damit ist der Versuch gemeint, darzulegen, in welcher Weise Jesus selbst ein Unterdrückter war und sein Leben dafür eingesetzt hat, die Menschheit von Unmenschlichkeit zu befreien. Cone möchte zeigen, wie Jesus und seine Botschaft relevant für die Schwarze Community im amerikanischen Kontext sein kann. Für Cone legte Jesus offen, was Schwarze über die Befreiung von Unterdrückung wissen müssten. Er sagte: „Wenn das wahr ist, dann war Jesus Schwarz, sodass die Schwarzen wissen können, dass seine Befreiung die Befreiung der Schwarzen ist.“5
Resümee: Die anderen Stimmen hören
Wie können wir nun das Bild von Jesus schärfen, sodass es nicht bloß unsere eigenen Bilder von ihm sind, die wir festhalten? Vielleicht ist ein Teil der Antwort, dass es nötig ist, anderen Stimmen zuzuhören. In der westlichen Christenheit ging es vielfach um die Frage, wie man die Einheit „wahrer Mensch und wahrer Gott“ denken könne. Es ging um die Frage nach der Geschichtlichkeit