Die Männer lagen wie gelähmt im toten Winkel, und aus dieser Entfernung jagte Traube die siebzehnte und letzte Granate aus dem Lauf, aus solcher Nähe, daß ihm die surrenden Splitter um den Kopf flogen.
Acht Meter.
Der Richtkanonier hörte, wie der Fahrer Vollgas gab.
Er sah die Ketten, nichts als Ketten, und die widerliche Bordkanone; er erfaßte, daß er seine Mutter nicht mehr wiedersehen würde. Er schrie wie die Russen in den brennenden Panzern, wenn sie zu schwarzen Klumpen geschmort wurden, und er hörte seine eigenen Knochen knacken, sah sein eigenes Blut in den Dreck rinnen, spürte, wie sein Herz stehenblieb, starrte die Infanteristen hinter dem T 34 noch an, sah Raupen, die sich weiterdrehten, ein Fließband der Vernichtung, das zwei, drei Sekunden später sein Leben zermalmen würde.
So sah ihn Ritt, der seitlich der Pak lag und schon mit allem Schluß gemacht hatte, sah den Panzer, sah, was in Sekunden geschehen würde, sah diese jungen Burschen zerstampft, sah ihre Körper von Gliedketten des T 34 erfaßt, hatte die Haftladung in der Hand, sprang aus dem Graben, hetzte mit zwei, drei Schritten an den Panzer heran, warf ihm den Tod auf die Stahlplatten und wunderte sich, daß er noch immer lebte.
Jetzt wurde er vom Panzer aus beschossen, kam bis fünf Meter an sein Deckungsloch, hörte, wie die Haftladung explodierte, wie der Stahlkasten zerplatzte, und fiel, sich überschlagend, in den Graben, wie ein Betrunkener, den der Wirt mit einem Tritt vor die Tür setzt.
Plötzlich war es still.
Die Luft stank nach Pulver, nach Eisen, nach Schwefel, nach Blut, und trotzdem herrschte Ruhe wie auf einem Friedhof.
Es war das letzte Wunder des jungen Hauptmanns Ritt, daß bis auf vier Gefallene und drei Verwundete das Bataillon noch einmal davonkam; für die Stunde, für den Tag. Die Russen hatten es nicht nötig, diese letzte, stumpfe Igelstellung aufzurollen.
Ein Kompanieführer wollte melden, Ritt winkte ab und befahl, die formlose Beerdigung der vier Toten »mit Beeilung« vorzunehmen.
»Stilles Vaterunser«, sagte er, setzte sich auf den Grabenrand und rauchte eine Zigarette. Er hatte nie eine Ansprache gehalten. Worte wie Durchhalten, Heldentod, Endsieg waren ihm fremd, und wenn sie einer benutzte, griff er nach seiner Zigarette und kniff die Lippen zu dieser seltsamen Ritt-Grimasse, die zu sagen schien: Was geht’s mich an?
Er sah zu, wie sie die Toten eingruben – 124 Lebende auf Abruf. Ritt hatte das alles satt, das Graben, Schießen, Befehlen, Sterben, die genormten Beileidsbriefe, die Latrinenparolen, die Fußlappen und den Kunsthonig. Er hatte es satt, sich für eine Stunde Leben weiterhin wie ein Wurm in die Erde zu verkriechen; er haßte den Rückzug, den Vormarsch, den Landsermief, diesen Stallgeruch der Kameradschaft. Er hatte es satt, von seinen Männern angestarrt zu werden wie ein Ausnahmemensch, der Wunder wirkt, obwohl er nur den Tod zu bieten wie zu erwarten hatte. Ihre Augen hatte er satt, mit denen sie zu ihm aufsahen, Kälber zu einem Lohnschlächter des Krieges, und er sagte sich in diesen Minuten – da nur das Knirschen der Spaten zu hören war, die wiederum ein Grab für vier Gefallene aushoben –, daß er auch den Tod in der Masse satt hatte: Wenn es nötig sei, dann wollte er wenigstens seinen eigenen haben.
Während diese Gedanken Ritt in einen kalten, lodernden Zorn hetzten, errechnete er – mit der Genauigkeit des perfekten Soldaten –, daß er vielleicht dieses Mal noch 124 Männer retten könnte, wenn er sein eigenes Leben dagegen setzte.
Er war nicht erpicht auf den Tod, obwohl ihn das Ende mitunter wie eine Erlösung gelockt hatte. Er ging die vielen Gelegenheiten durch, bei denen er sein Leben für sinnlose Taten weggeworfen hatte. Warum, so fragte er sich aufgebracht, soll ich mich nicht noch einmal als Zielscheibe stellen, jetzt, da es doch wenigstens einen Sinn hat?
»Fertig?« fragte er mechanisch, während er sich flüchtig eingestand, daß er von Stalingrad bis zu dieser Stellung wohl nur gelebt hatte, um sich für das Kriegsgericht aufzusparen.
»Wir rücken ab!« beendete Ritt das formlose Begräbnis und warf dabei die Zigarette im gleichen Bogen weg wie seine Zukunft.
»Aber – aber, Herr Hauptmann«, stotterte ein junger Leutnant hilflos, voller Angst, den Befehl mißverstanden zu haben.
»Schon gut«, sagte Ritt. »Ich weiß, was ich tue – und wir wollen nicht dramatisch werden.«
Er handelte letztlich aus dem gleichen unsinnigen Motiv – Anstand, Kälte und Gleichgültigkeit –, aus dem er vor einem Jahr eine Frau geheiratet hatte, die er nicht liebte; sie hatte vor einigen Monaten sein Kind geboren, das er nicht kannte.
Das Rest-Bataillon vermied die Rollbahnen und Rückzugsstraßen. Querfeldein schafften die Männer am ersten Tag vierundzwanzig Kilometer und am nächsten neun. Ohne Feindberührung fluteten sie zufällig in die rechte Richtung.
Am dritten Tag hängten sie sich an eine Lkw-Kolonne, die als letzte aus der russischen Umklammerung rollte.
Am fünften Tag meldete sich der Hauptmann bei einer Auffangstelle. Er wurde von seinen Offizierskameraden herzlich begrüßt und in eine alte Scheune geleitet, die sich Kasino nannte. Man gab ihm Wodka und stellte Fragen.
Ritt trank und schwieg.
Stunden später kamen die Kettenhunde; Feldgendarmen mit hölzernen Gesichtern und blechernen Helmen, Offiziersstreife, geführt von einem Hauptmann. Als Ritt sie sah, goß er sich rasch noch einen Wodka ein, denn er wußte, daß sie ihn holen würden.
Gegen den verhafteten Offizier wurde Tatbericht eingereicht.
Die rasch angesetzte Verhandlung des Kriegsgerichts verschoben allerdings die Russen; dreimal wechselte Ritt das Gefängnis, dann schafften man ihn sicherheitshalber gleich bis Warschau zurück, wo man für seinen Tod Vorbereitungen traf wie für eine Hochzeit: Er wurde entlaust, durfte baden, erhielt ein frisches Hemd und eine saubere Uniform.
Der Unteroffizier vom Dienst sammelte seine Tapferkeitsauszeichnungen ein wie ein Gerichtsvollzieher die Schulden; Ritt warf ihm das EK I und jenen Orden, der wie ein Spiegelei aussah, sowie das Verwundetenabzeichen in Silber zu wie Fallobst, sich von seinen Ehrenzeichen genauso lustlos trennend, wie er sie empfangen hatte: Blech.
II
Der Tag war schön und kalt, der Winter reckte sein weißes Haupt über schwelende Trümmer. In der flimmernden Luft tänzelten Schneekristalle in giftbunten Farben. Ein Hoch reichte vom Ural bis zum Atlantik. Sein Zentrum stand am 6. Januar 1944 über Deutschland, und das bedeutete Flugwetter, Bomben, Keller, Tod.
Die Zivilbevölkerung würde Verluste haben.
Die Fliegenden Festungen kamen in drei, vier Wellen. Die Sirenen heulten erst, als schon die Bomben fielen. Rauchsäulen stiegen steil gegen den Himmel. Geborstene Mauern brannten aus. Viele Menschen unter den Trümmern lebten noch.
Die erste Welle hatte ihr Ziel getroffen, die zweite war im Anflug.
Die Menschen in Frankfurt hofften, daß die nächste Ladung die Menschen in Köln treffen würde. Die Menschen in Köln waren erleichtert, als sie hörten, daß die neuen Pulks nach Südosten abdrehten. Die Menschen in den glitzernden Flugzeugrümpfen hofften, daß sie den Feindflug überleben und zu ihren Frauen und Kindern zurückkommen würden; sie dachten nicht daran, daß ihre Luftminen Frauen und Kinder erschlugen.
Die Ritt-Werke am Stadtrand von Frankfurt, vormals Lessing & Kahn, wurden nicht getroffen. Eine viermotorige Maschine brannte, von der Flak angeschossen, in der Luft. Zwei amerikanische Piloten retteten sich mit dem Fallschirm. Sie landeten auf dem Außengelände der Firma, bevor es ihre Maschine in der Luft zerriß.
Die beiden US-Soldaten waren Neger, aber ihre Gesichter wirkten nicht schwarz, sondern grau; sie hielten die Hände hoch über dem Kopf, wie bittend, als sich einige Betriebsfunktionäre daranmachten, sie zu lynchen; die Soldaten schrien gellend um Hilfe. Aus den dunklen Gesichtern leuchteten die verdrehten weißen Augäpfel.
Der Kleinere hatte es leichter; bevor er noch begriff, was mit ihm geschehen sollte, wurde er niedergeschossen. Der andere