Tanausú. Harald Braem. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Harald Braem
Издательство: Bookwire
Серия: Historische Romane und Erzählungen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788494150166
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die Natur in all ihren Erscheinungsformen, jeder Grashalm, jede Pflanze war wichtig und erfüllte ihre Funktion im großen Gefüge, kein Tier wurde unnütz getötet. Der Mensch musste essen, aber er brauchte wenig. Wenn er ein Tier tötete oder eine Pflanze brach, bedankte er sich bei deren Clan, der auf gewisse Weise mit dem Clan der Menschen verwandt war. Der Mensch war nur ein winziger Teil der großen Natur, und die Augen der Erdmutter sahen alles. Auch der Guayote, der Dämon aus dem Vulkan, beobachtete das Treiben der Menschen. Handelte einer gegen seinen Willen, versündigte er sich gegen die Natur, so konnte er grollen und sich fürchterlich rächen. Sprachen die Lavabahnen nicht eine deutliche Sprache, waren sie nicht Ausdruck seines gewaltigen Zorns, eine Strafe, die er über die übermütigen Menschenwesen kommen ließ, um sie in ihre Schranken zu weisen?

      Er ging jetzt direkt zum Meer hinunter. Eine Trittspur war nicht mehr vorhanden, auch Ziegen kletterten hier nicht, dafür war es zu steil. Bencomo und Mazo aber nahmen die Herausforderung des Felsens an. Jede Stelle blitzschnell auf die Sicherheit des Trittes überprüfend, den Blick ständig am Boden, sprangen sie von Vorsprung zu Vorsprung. Es war ein herrliches Gefühl, sich so schnell fortzubewegen und dabei große Höhenunterschiede zu überwinden. Bencomo hatte bei seiner Mutprobe ganz andere Berge erklommen, für ihn war das hier ein Spiel. Das Springen und Ausbalancieren am Berg kam dem Fliegen sehr nahe, man fühlte sich fast schon wie ein Vogel dabei. Atemlos kamen sie unten an.

      Endlos weit und leer lag der schwarze Strand, mächtig rauschte das Meer und warf seine Wellen ans Land. Wo die Felsen ins Wasser reichten, glänzten sie pechschwarz. Kleine Schaumblasen klebten an ihnen und zerplatzten prickelnd, während Krabben und winzige Meerestiere emsig umherliefen. Die feuchte Zone war ihr Lebensgebiet, und sie waren beständig darum bemüht, gerade in solchen feuchten Streifen zu bleiben, wohin die Gewalt des Meeres nicht reichte und wo die Sonne nicht genug Zeit hatte, den Felsen auszutrocknen und heiß werden zu lassen. Dies war auch das Reich der Lapas, in ganzen Kolonien klebten sie hier an den Steinen.

      Bencomo und Mazo nahmen ihre Messer und pflückten sie ab. Die ersten aßen sie gleich an Ort und Stelle, frisch mundeten sie am besten, salzig vom Wasser und schmackhaft wie Fleisch. Als sie satt waren, sammelten sie weiter in den Korb. Die Leute zu Hause würden sich freuen und sie dafür loben. Auch aus den Schalen ließen sich allerlei nützliche Dinge fertigen, zum Beispiel Löffel, wenn man sie durchbohrte und einen hölzernen Stiel hineinsteckte. Aus mehreren durchbohrten Schalen ließen sich Ketten machen, die schön auf der Brust aussahen und bei jeder Bewegung leise klapperten. Als sie genügend zusammen hatten, machte sich Mazo auf die Suche nach einem Köder für seinen Angelhaken aus zugespitztem Knochen. Korb und Fischspieß hatte er auf einen Felsbuckel gelegt, zu dem das Meer nicht hinaufreichte, nun watete er am feuchten Streifen vor der Brandungswelle entlang. Rhythmisch kam das Meer heran und umspielte seine nackten Beine. Hin und wieder klatschte auch eine größere Welle heran und spritzte ihn nass bis zur Brust. Das war angenehm kühl, und Mazo genoss es, gerade diesen Wellen nicht auszuweichen und seinen Weg schnurgerade am Meer entlang zu nehmen. Bencomo hatte sich in den schwarzen Lavasand geworfen, lag auf dem Rücken und beobachtete den Flug der Seevögel über sich. Er besaß Fantasie, er konnte sich vorstellen, wie ihnen zumute war, so hoch oben in der Luft oder flügelnahe dem glitzernden Spiegel des Meeres. Auch die wenigen weißen, sich ständig im Wind verändernden Wolken besaßen für ihn ein eigenes Leben. Es waren Wesen von flüchtiger Form. Mit ihrem Wechselspiel narrten sie den Betrachter, gaukelten ihm Landschaften vor, Berge und geflügelte Wesen, Drachen der Urzeit, Gesichter von Windgeistern und manchmal sogar eine Schrift, ähnlich den Zeichen, die die Medizinfrau in die Haut der Seelensteine gravierte.

      Bencomo träumte mit offenen Augen. Diesen Zustand kannte er gut und liebte ihn sehr. Es war etwas, was die Seele zum Klingen brachte und den Geist frei werden ließ. Alle Guanchen taten das, die Leute seines Stammes und die der anderen auch. Er hatte manchmal schon Männer, Frauen und Kinder angetroffen, die scheinbar schlafend herumsaßen, obwohl sie wach waren und alles mitbekamen, was wichtig war. Traumzeit nannten sie diesen Zustand und maßen ihm eine große Bedeutung zu. Und wichtig und wertvoll war er gewiss – konnte man nicht auf diese Weise besser als sonst sehen, wie alles im innersten Kern war, wie es wurde, entstand und sich immer wieder aufs neue wandelte? Vom Feycan, dem Richter, und Tamogante, der Seherin, hieß es, sie lebten ständig in der Traumzeit. Auch die Heilfrau und Madango, der alte König. Selbst die Krieger zogen sich in gewissen Abständen in die Einsamkeit der Wildnis zurück, um ganz in der Traumzeit zu leben, wie die Harimaguadas, die heiligen Jungfrauen in den Klöstern hoch oben in den Bergen, wo sie den Göttern nahe waren und die Weisheit der großen Erdmutter studierten.

      Die Traumzeit gehörte allen, und jeder einzelne war ein Teil davon, obwohl es auch ganz persönliche Bereiche gab, die nur der einzelne kannte. Für Bencomo besaßen zum Beispiel das Meer und der Himmel über der Bucht von Taxacorte eine ganz besondere Bedeutung. Es gab einen Streifen, wo beide Mächte zusammen stießen und so sehr miteinander verschmolzen, dass man nicht mehr ausmachen konnte, wo die eine aufhörte und die andere begann. Darin, und besonders wenn er die Augen zusammenkniff, spielte für ihn sich alles ab, entstand etwas Neues, für das es noch keinen Namen gab, wuchs eine Welt voller Zwielicht und Wunder.

      Dies ist vielleicht die tatsächliche Wirklichkeit, dachte Bencomo manchmal. Wenn ich mich anstrenge und besonders genau hinsehe, entdecke ich dort und nur dort, wie alles entsteht. Nein, anstrengen war vielleicht doch der falsche Ausdruck. Es kam mehr darauf an, sich völlig gedankenfrei treiben zu lassen, ganz ohne Willen und Absicht zu sein, sich durch nichts ablenken zu lassen. Dann entstanden die wunderbaren Bilder dort an der Grenze von Himmel und Wasser, die Visionen, die alles in ihm berührten und auf grandiose Weise zur Klarheit brachten. Vielleicht ist es genau das, was die Harimaguadas in ihren Bergklöstern tun, dachte Bencomo, das, was einen Seher ausmacht und ihn so sicher in seinen Entscheidungen werden lässt.

      Jetzt aber zog plötzlich etwas ganz anderes Bencomos Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte Stimmen gehört und schnellte hoch. Hinter seinem Felsen verborgen, sah er eine Gruppe Menschen auf den Strand kommen. Wo steckt Mazo, überlegte er. Hoffentlich war er ihnen nicht in die Arme gelaufen. Der Bruder war nirgends zu entdecken …

      Bencomos Herz schlug höher, sein Atem stockte, als er unter den Neuankömmlingen die schöne Ica entdeckte. Wie alt wird sie sein, fragte er sich wieder einmal. Vierzehn, fünfzehn oder vielleicht älter? Nein, dann würde sie wahrscheinlich schon zu den Harimaguadas in die Lehre gehen oder sogar verheiratet sein. Vielleicht war sie auch bloß ein Fischermädchen, eine von jenen, die nie den Stamm verlassen, am Wasser bleiben, um Netze zu flicken, Fische auszunehmen und eine Schar Kinder aufzuziehen, die dann später auch Fischer und Netzflicker werden würden.

      Sie war mit ein paar anderen Kindern dort, die meisten jünger als sie, wahrscheinlich ihre Geschwister. Bencomo blieb angespannt auf der Lauer liegen, als dort unten am Strand das Herumtoben begann. Die Kinder spielten Fangen und bewarfen sich so mit Sand, dass ihre Körper bald schwarz wie der Strand waren. Dann stürzten sie sich ins Wasser, sprangen quietschend in die Brandungswelle, ließen sich von ihr umspülen oder tauchten unter ihr durch. Es ging ihnen gut, so gut, dass sie nicht einmal auf dem Strand nach Essbarem suchten.

      Doch halt, das stimmte nicht: Ica hatte, was er erst jetzt bemerkte, einen Korb aufgestellt. Den holte sie jetzt, nachdem sie sich im Wasser ausgetobt hatte, hängte ihn um und begann, leicht vorgebeugt, den Uferstreifen abzusuchen. Was macht sie, fragte sich Bencomo. Lapas findet sie dort nicht, die kleben nur da, wo Felsen sind. Nach was bückt sie sich ständig, hebt es auf, hält es prüfend hoch, wirft es nach einigem Überlegen weg oder verstaut es im Korb?

      Bencomo bedachte nun nicht mehr, was er tat. Sein Verstand hatte einfach ausgesetzt, als er nun aus der Deckung des Felsens hervortrat und zu den Kindern hinüberging. Ein paar von ihnen entdeckten ihn, riefen etwas und deuteten mit dem Finger in seine Richtung.

      Ica schien davon nichts zu bemerken, zu versunken war sie in ihre Tätigkeit. Außerdem drehte sie ihm gerade den Rücken zu. Bencomo lief an den Kindern vorbei und tat so, als wolle er in die Brandungswelle springen. Im letzten Moment überlegte er es sich, schwenkte ab und ging mit langsamen Schritten am Ufer entlang.

      Als er Ica beinahe erreicht hatte, drehte sich das Mädchen um. Es war ein Zufall, sie konnte ihn unmöglich gehört haben, viel zu laut war das Rauschen des Meeres. Sie