Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain. Alex Lépic. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alex Lépic
Издательство: Bookwire
Серия: Red Eye
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701347
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hinabbeugte, um den Hund zu streicheln.

      »Bin ich etwa niemand?«, fragte Yvonne in gespielter Entrüstung. »Alain war eben da, aber er musste rüber, um eine Lieferung anzunehmen.«

      Der alte Gemüsehändler führte zusammen mit seinem Sohn den Laden gegenüber. Er war ein Mitglied der Troika, die sich allmorgendlich und, wenn es die Zeit zuließ, auch zum déjeuner im Chai traf. Lacroix und sein Bruder Pierre-Richard waren die beiden anderen Mitglieder. Eigentlich hätte die Troika eine Quadriga sein müssen, denn auch Yvonne Abeille, die Wirtin des altehrwürdigen Chai de l’Abbaye, war immer in ihrer Mitte.

      »Und Pierre hat Mittagsandacht«, ergänzte Lacroix mit einem Blick auf die große Uhr über der Bar. Er konnte sich kaum an die Zeit erinnern, als sein Zwillingsbruder noch nicht Pfarrer der altehrwürdigen Basilique Saint-Clotilde in der Rue las Cases im noblen siebten Arrondissement gewesen war.

      »Wonach steht dir der Sinn?«

      »Bei der Kälte will ich etwas Rustikales – wie wäre es mit der Sabodet Lyonnais

      »Eine gute Wahl. Dazu?« Sie zeigte auf den Zapfhahn, Lacroix nickte.

      Yvonne nahm eines der kleinen Gläser und ließ das Meteor aus dem Elsass hineinlaufen. Keine Nachfrage, sie wusste, dass er stets nur kleine Gläser Bier trank, weil sie kälter, frischer, schmackhafter waren als die großen, die so schnell schal wurden.

      »Mon cœur«, rief sie in die Küche zu ihrem Mann, der am Herd stand, »machst du unserem Commissaire die Lyoneser Würste?«

      Sie stellte das Bier vor Lacroix, der in einem Schluck das halbe Glas austrank. Yvonne beobachtete ihn.

      »Sorgenfalten auf der Stirn und sehr viel Durst. Was ist los?«

      »Ein Tag, der mit einer Leiche begonnen hat, ist selten ein guter Tag«, sagte Lacroix.

      Sie fragte nicht nach, ließ ihn zuerst das Bier austrinken und begann bereits, ein neues zu zapfen, als er fortfuhr:

      »Maurice Lefèvre wurde erschlagen.«

      Er musste nichts weiter sagen, sie hob sofort den Blick und sah ihn entgeistert an.

      »Der Bäcker?«

      »Du kennst ihn?« Die Frage war rein rhetorisch. Yvonne kannte jeden, der irgendwie typisch für Paris war und länger als ein Jahrzehnt in der Stadt wohnte.

      »Ich habe mein Brot bei ihm bezogen, Baguettes und Croissants. Das dunkle Brot hole ich ja in der Rue du Cherche-Midi, wie du weißt.«

      Lacroix liebte das Landbrot mit der dunklen Kruste von der Bäckerei Poilâne.

      »Was war er für ein Mensch?«

      »Ich habe mehr mit seiner Frau zu tun gehabt. Sie macht die Auslieferungen und war zehn Jahre lang jeden Morgen pünktlich hier. Das kenne ich von anderen Lieferanten auch ganz anders. Ihn habe ich vielleicht zwei-, dreimal im Jahr gesehen, wenn er mir neue Produkte vorgestellt hat. Ein feiner Mann, wie besessen von seinem Beruf. Stets freundlich und ein wenig in sich gekehrt. Du weißt, das mag ich. Mein liebster Koch«, sie wies mit dem Kopf in Richtung Küche, »ist ja auch so.«

      »Du sagst, du hast dein Brot bei ihm bezogen. Heute also nicht mehr?«

      »Deshalb bist du der beste Commissaire von Paris. Dir entgeht einfach nichts.« Yvonne hantierte mit Flaschen und Gläsern, während sie weitererzählte. »Im letzten Mai habe ich zu einer Bäckerei hier in der Nachbarschaft gewechselt, in der Rue l’Echaudé. Ich war überzeugt von Lefèvres Baguette – bis zu dem Zeitpunkt, als die ganze Stadt davon überzeugt war. Ich war natürlich zuerst stolz, die Qualität seines Brotes als eine der Ersten erkannt zu haben. Doch nach der Prämierung ließ die Qualität nach. Der Preis stieg um zehn Cent, dafür wurden die Brote kleiner, und irgendwas stimmte nicht mehr mit der Kruste. Manchmal war sie knochenhart, manchmal labbrig. Ich habe das eine Zeit lang beobachtet, dann habe ich Madame Lefèvre darauf angesprochen. Aber es kam keine Entschuldigung, und die Baguettes blieben so. Offenbar hatten sie es nicht mehr nötig. Die Touristen und den Präsidenten haben sie als Kunden gewonnen, mich verloren.«

      Sie nickte energisch, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Im selben Moment klingelte es in der Küche. Yvonne griff um die Ecke und stellte den Teller vor Lacroix ab. Die Wurst aus Schweinskopf und Zunge war in dicke Scheiben geschnitten. Den Namen verdankte sie ihrer Form – der eines Holzschuhs. Das rote Schweinefleisch und das helle Fett glänzten um die Wette, während die Kruste scharf angebraten worden war. Die Wurst lag auf gekochten Wirsingblättern und einem cremigen Kartoffelgratin.

      Lacroix mahlte schwarzen Pfeffer über das Gericht und griff nach seinem Besteck. Die Ereignisse des Morgens hatten ihn hungrig gemacht.

      5

      Es hatte wieder zu regnen begonnen, sodass La- croix seinen Schritt beschleunigen musste. Dennoch war er pitschnass im Kommissariat angekommen. Er ging hier seit so vielen Jahren tagtäglich ein und aus, dass er die schreckliche Architektur gar nicht mehr recht wahrnahm. Das Haus war ein Betonblock in der Leichtbauweise, die in den Sechzigern Standard gewesen war, und damit eine Beleidigung für all die herrlichen Bürgerhäuser ringsum, die aus der Ära Haussmann stammten, dessen Architektur das Pariser Stadtbild prägte wie keine andere. Mittendrin lag das Kommissariat, gesichert von bewaffneten Polizisten und Straßensperren. Die moderne Zeit. Es machte Lacroix traurig, dass all das nötig war, um sich und seine Kollegen zu schützen, obwohl es doch eigentlich ihre Aufgabe war, die Pariser zu beschützen.

      Lacroix leitete die Brigade criminelle des fünften und sechsten Arrondissements. Rive gauche, die Viertel, in denen die Sorbonne lag, das Quartier Latin, wichtige Denkfabriken wie die Académie française, die schönsten Buchhandlungen und Cafés der Stadt.

      Er stieg die drei Etagen hinauf, im zweiten Stock passierte er das Museum der Pariser Polizeipräfektur, das direkt unter seinem Büro lag. Es beherbergte eine Sammlung von Polizeiartefakten aus drei Jahrhunderten: Bilder, Waffen, Uniformen, Geschichten über die spektakulärsten Morde, die Paris erleben musste.

      Oben herrschte ein geschäftiges Treiben: Rio und Paganelli telefonierten, der Korse wie stets mit lauter Stimme und wild gestikulierend. Lacroix ging an ihnen vorbei und betrat sein Büro. Als sein Blick auf die Glasscheibe fiel, die sein kleines Büro von dem seiner Kollegen trennte, nickte er anerkennend. Wahrscheinlich war es Rio gewesen, die in der Kürze der Zeit die Fotos von allen, die an dem Fall beteiligt waren, besorgt, ausgedruckt und aufgehängt hatte. Noch kannte Lacroix nur die wenigsten. Das freundliche und sanfte Gesicht von Maurice Lefèvre, dem Opfer. Die rosigen Wangen seiner Frau direkt daneben. Zudem waren Passfotos aller Angestellten der Boulangerie aufgehängt. Lacroix erkannte zwei der Verkäuferinnen des Vortages auf den ersten Blick. Direkt daneben der Mann von Gaz de France, der als Erster am Tatort gewesen war und die Leiche gefunden hatte. Offenbar hatte das Ehepaar Lefèvre keine Kinder, sonst hätte Rio auch Fotos von ihnen aufgehängt. Er würde sie gleich danach fragen.

      Lacroix hatte die Tür offen stehen gelassen, und so trat die Capitaine ein, ohne anzuklopfen. In der Hand hielt sie zwei weitere Fotos.

      »Das hier«, sie zeigte auf die beiden Gesichter, eine Frau und einen Mann, beide Mitte, Ende 50, »sind Claudine Rabaly, die zuständige Handelssekretärin, und Bertrand Lemaire, der Chef der Bäckerinnung. Sie waren gestern bei der Prämierung dabei. Ich habe sie informiert. Sie erwarten uns um 16 Uhr im Rathaus.« Sie hing die Fotos auf und sah ihn an. »Commissaire, seit einer Stunde klingelt ununterbrochen das Telefon. Die Presse will alles wissen. Der berühmteste Bäcker der Stadt ermordet, nur wenige Stunden nach seinem großen Triumph! Das ist ein gefundenes Fressen für die.«

      »Sie wissen also auch schon Bescheid …« Lacroix seufzte. »Herrgott noch mal!«

      »Was sollen wir tun?«, fragte Rio, obwohl sie die Antwort kannte.

      Mit dem Polizeireporter Havrincourt hatte Lacroix eine enge Freundschaft verbunden. Doch nachdem sich der Mann vor einem knappen Jahr mit dem Rasenmäher über den Fuß gefahren und anschließend an einer Thrombose gestorben war, mied der Commissaire jeden Kontakt zur Presse.