West-Berlin ist zur Zeit gewiß »nach der Saison«, Capri im Januar. Der Strand verwaist und beschädigt, prominente Kurgäste längst abgereist. Auf den Promenaden füttern Ureinwohner mißmutige Vögel, machen sich Gedanken um den Geist ihrer Insel. Es ist das Beste, was sie augenblicklich tun können; denn zu den Tugenden, die Berlin dem deutschen Nationalcharakter beigesteuert hat, gehörte immer die Selbstkritik.
Verändert sich die Erdoberfläche durch Katastrophen, Vulkanausbrüche, oder wandelt sich alles allmählich, unmerklich fast für ein menschliches Auge, durch die langsamen, aber mächtigen Kräfte von Wasser und Wind? Diese alte Streitfrage der Geologie kam mir in den Sinn, als ich vorgestern abend von einer kurzen Reise durch die nördliche Bundesrepublik zurückkehrte.
Das »flache Land« – sagen wir, eine ostfriesische Kleinstadt – scheint ein Beweis für die Theorie der unmerklichen, sanften Veränderung, wenn wir einmal die Gesetze der Erdgeschichte auf die Menschengeschichte anwenden wollen. Zwischen einer Reproduktion des Hasen von Dürer und einem Kachelofen mit der Jahreszahl 1910 trinkt man sein »Köppke Tee mit Klunche« wie eh und je. Vor dem Fenster die grünen Koppeln und am Horizont die charaktervolle Silhouette der hohen friesischen Windmühle, fest gegründet auf rundem Steinsockel. Lediglich einige Nissenhütten oder Baracken am Stadtrand zeigen den Einbruch eines fremden Elementes an. Der Ostflüchtling ist als Treibholz der Geschichte am Strande zurückgeblieben, als die große Welle des Krieges sich überschlagen hatte und das Wasser langsam zurückfloß. Aber viele dieser gestrandeten Opfer haben sich überraschend schnell eingerichtet und trinken den landesüblichen Tee schon ganz wie Alteingesessene. Gewisse alltägliche Zeremonien haben ein unglaubliches Beharrungsvermögen.
Gilt das überall und immer? Gilt das auch für den Osten? Der unter russischer Besatzung lebende Teil Deutschlands scheint die andere geologische Theorie, die der gewaltsamen Veränderung, zu bestätigen. Hier glich das Kriegsende einem Vulkanausbruch, der eine total veränderte Landschaft zurückließ. Hier zersprangen die gesellschaftlichen Formen, und der Lavastrom fließt immer weiter; noch immer werden Profile eingeschmolzen, umgeglüht. Berlin ist das Observatorium, von dem aus dieser Prozeß registriert werden kann. Es ist der Ort, dessen Bewohner sich im Osten wie auch im Westen ein wenig fremd vorkommen; denn sie haben zu gegenwärtig die alles sprengende Macht vulkanischer Geschichtskräfte, um an die Unerschütterlichkeit des sanften Gesetzes der lieben Gewohnheit glauben zu können. Sie notieren aber andererseits – und dies ist vielleicht verwunderlicher noch – das Katastrophengebraus mit einer gewissen Gelassenheit; denn sie wissen, daß plötzliche Einbrüche und gewaltsame Verschiebungen oft nur scheinbar grundstürzend wirken, nur die Oberfläche wandeln, nicht das Wesen.
Leute vom Observatorium Berlin, mit einem Wort, halten alles für möglich, aber das Notwendige für wahrscheinlich; denn wenn die Dinge nicht doch am Ende immer nach einem gewissen Gleichgewicht strebten, hätte diese Stadt an der abschüssigen Grenze zwischen frischgefurchtem Lavafeld und altgeglättetem Strand längst entweder einer falschverstandenen Revolution oder einer falschverstandenen Restauration verfallen müssen.
Tatsächlich erhält sich Berlin in der Schwebe einer abwartenden Improvisation.
Es fällt dem Berliner schwer, einzusehen, daß er vorläufig keine Hauptrolle spielt, daß er durch den Ausgang des Krieges zwischen den Fronten hängengeblieben ist und nun gleichsam abseits von der Geschichte eine Zuschauerrolle übernehmen mußte. Aber noch immer ist man in dieser Stadt realistisch. Das Leben geht weiter, und mit größter Selbstverständlichkeit richtet man sich nach diesem ebenso banalen wie unwiderleglichen Wort. Geht es nicht gut, so geht es doch, besonders wenn man weiß, daß es nicht besser gehen kann.
Potsdamer Ecke Bülowstraße: grünes Licht. Ein Taxi will anfahren, aber ein anderer Wagen mit einer jungen Dame am Steuer steht im Wege. Es ist grünes Licht, und die junge Dame fährt und fährt nicht an. Da beugt sich der Taxi-Chauffeur aus dem Fenster und ruft ihr zu: »Nu fahrn Se man, Frollein, jrüner wird’s nich!«
DAS LIED IN ALLEN DINGEN
Ein Kessel pfeift, das Kaffeewasser nebenan ist fertig. Man dreht sich noch einmal um, halbe Stunde Zeit. Ein Volkswagen startet. Wird er wie immer gleich aus dem Anlasser losfahren? Da ist er schon weg. Und nun läuft oben auch das Badewasser ein. Gleich wird der Milchwagen bimmeln. Das Radio unten bringt Frühnachrichten.
»Es schläft ein Lied in allen Dingen . . .« Ein dissonantes Lied, das unseren Morgen begleitet. Aber wenn man nicht gerade sehr müde oder schlecht gelaunt ist, haben all diese vertrauten Geräusche der Umwelt doch auch etwas eigentümlich Beruhigendes. Aus Schlaf und Traum erst langsam zu heller Wirklichkeit aufsteigend, stellt sich das Gleichgewicht des wachen Lebens mit Hilfe dieses geheimen Liedes in den Dingen wieder her. Es hat alles seine Ordnung, sagen sie uns. Sie sagen es manchmal mißtönend, und doch können wir uns an sie halten, tun es auch ganz unbewußt. Die Katastrophenzeiten stecken uns allen noch so in den Knochen, daß wir das Gleichmaß des Alltags genießen können.
Wie vom nächsten Kirchturm die Glocke herüberklingt am Abend, das Tropfen des Regenwassers im Abflußrohr der Dachrinne, die knarrende Haustür, das Klingeln einer Straßenbahn von der Kreuzung drüben, abgerissene Klänge eines Violinenkonzertes aus dem Radio der Leute gegenüber, der Schrei des Käuzchens von der hohen Kiefer hinter dem Haus, der Schritt auf der Treppe, dann das Klirren eines Schlüsselbundes – all die unzähligen Geräusche des Abends, die wir beim Zeitunglesen vernehmen, ohne es recht zu bemerken, oder vorm Einschlafen, sie sind – wie die pünktlichen Regungen des Morgens – kleine Tropfen, die den Strom des Tages machen, der uns dahinträgt, aus dem Schlaf in den Schlaf.
Auf geheimnisvolle Weise leiten uns all diese kleinen Signale, die ihren eigenen Zweck haben mögen und die wir doch – wie alles, was uns begegnet – auf uns sehr persönlich beziehen. Sie helfen bilden, was man Atmosphäre nennt oder Stimmung. Wo die Zeitung immer einmal wieder das unmittelbar Bedrohliche in fetten schwarzen Schlagzeilen auf den Frühstückstisch bringt – dort schätzt man die kleinen, bewahrenden Selbstverständlichkeiten, das Lied in allen Dingen, mag es auch monoton, profan und eigentlich gar nicht schön sein. Das sogenannte Entscheidende ist immer unsicher; so suchen wir manchmal Sicherheit in naheliegenden Banalitäten, weil sie vertraut sind.
ZWEITGRÖSSTE STADT EUROPAS
Die Bevölkerung eines Staates, auch einer Stadt, gleicht einer Pyramide. Berlin ist heute eine Pyramide ohne Spitze. Der breite Sockel, der Unterbau blieb – bis weit über die Mitte hinauf. Die Spitze brach und bröckelte ab. Früher einmal saßen die Direktionen der größeren Unternehmen selbstverständlich in Berlin – heute unterhält man hier noch eine Generalvertretung. Früher erschienen die meisten und die besten Zeitungen in Berlin – heute: weder noch. Früher saß der deutsche Film in Berlin, das Zentrum des deutschen Rundfunks. Früher, überflüssig es zu erwähnen, fand der deutsche Staat in Berlin seinen repräsentativen und tatsächlichen Ausdruck.
Alles das war früher. Die großen Filmregisseure und Presseleute, die Industriellen, Minister, Gesandten, Professoren – sie alle gingen irgendwohin in die Bundesrepublik. Berlin hörte mit ihrem Abzug auf, eine Haupt- und Weltstadt zu sein, ohne daß irgendwoanders in Deutschland eine neue Haupt- und Weltstadt auch nur im Ansatz entstanden wäre. Aber was immer noch da ist in Berlin, erstaunlich unverletzt und ziemlich gleichmütig, immer noch da ist, das sind »die Berliner«, das ist das Volk dieser Stadt, die große Mehrzahl, das Heer der Verkäuferinnen und Metallarbeiter, der Sekretärinnen und Schaffner und Kellner.
Man braucht sich nur an einen U-Bahn-Ausgang zu stellen, nachmittags zwischen vier und sechs, wenn man heute Berlin finden will. Da kommen sie die Treppen herauf, es ist der alte Schlag.