Kirsten Holst
In den Sand gesetzt – Skandinavien–Krimi
Übersetzt
Hanne Hammer
Saga
In den Sand gesetzt – Skandinavien–Krimi ÜbersetztHanne Hammer
Original
De lange skygger
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1981, 2020 Kirsten Holst und SAGA Egmont
All rights reserved
ISBN: 9788726569506
1. Ebook–Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga–books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
1. Kapitel
Es war Sonntag. Der letzte Tag der Schulferien. Die Wettergötter hatten offenbar beschlossen, ihr Bestes zu tun, um den Tag zu einem Erfolg werden zu lassen. Eine heiße Augustsonne brannte von einem völlig wolkenlosen Himmel, beschien die flachen Wellenkämme und wurde in scharfen Blitzen von den Hunderten von sonntagsblanken Autos reflektiert, die ein Stück weiter am Strand außerhalb des autofreien Paradieses geparkt hatten, das direkt unterhalb der Stadt lag. Die Luft flirrte über dem Sand vor Wärme. Man konnte die Hitzewellen nahezu sehen wie Wasser, das über eine schmutzige Fensterscheibe lief. Das klare Licht verzerrte die Abstände und Dimensionen, ließ Nahes fern und Fernes nah erscheinen. Selbst die Geräusche waren anders als sonst.
Unten am Wasser lachten und schrien ein paar Kinder mit hohen, durchdringenden und trotzdem so leisen Stimmen, als riefen sie in einem schalldichten Raum und die Schreie der Möwen blieben melancholisch in der Luft hängen, wenn die Vögel plötzlich aus ihrem Höhenflug auf die glitzernden Wogen herabstießen. Der ganze Strand schien wie ein Vakuum, herausgehoben aus Zeit und Raum. Alle Bewegungen erfolgten in einer Art zäh fließendem Zeitlupentempo. Irgendwo unterhalb der Dünen spielten vier ausdauernde Touristen – vermutlich Deutsche – Federball. Der leichte Federball löste sich fast widerwillig von dem Schläger, segelte in einem trägen Bogen durch die Luft und traf den anderen Schläger mit einem schwachen, kaum hörbaren Knall. Hin und zurück, hin und zurück. Wie ein Perpetuum mobile. Über den Dünenspitzen, weiter Richtung Stadt, stieg ein kleines, blaurotes ferngesteuertes Modellflugzeug in großen, weichen Kreisen höher und höher in den Himmel, bis man es nur noch als dunklen Fleck in all dem Blau ahnen konnte. Ein Ikarus auf dem Weg zur Sonne.
Hin und wieder ließ ein schwacher Windstoß vom Meer den ganzen Strand tief durchatmen und der Strandhafer neigte seine langen, spitzen Halme zum Sand hin und zeichnete kleine, präzise Kreise um sich herum, als wollte er sein Territorium markieren.
Ein Käfer, der offensichtlich noch kein Vertrauen in seine Fähigkeit hatte, auf seinen sechs Beinen zu gehen, arbeitete sich beschwerlich an der Seite einer Dünenmulde hoch. Er glich einem VW auf dem Weg durch eine endlose Wüstenlandschaft; fast konnte man den schnurrenden Motor hören und sehen, wie er immer wieder den Gang wechselte.
Unten in der Mulde lag ein Mann und nahm ein Sonnenbad. Ein gut gekleideter Mann. Oder besser ein gut ausgezogener Mann, denn er trug nur eine Badehose. Trotzdem machte er auf die eine oder andere Weise einen gut gekleideten Eindruck. Die blaue Badehose war aus einem glänzenden, elastischen Stoff und saß wie angegossen, das blaue Handtuch, das Kopf und Schultern bedeckte, passte farblich genau zu der Hose, er war braun genug, um nicht nackt zu wirken, und er lag hübsch und ordentlich auf dem Bauch, die Arme fest an die Seiten gepresst. Fast in Habachtstellung.
Endlich hatte der Käfer den Rand der Mulde erreicht, doch hier stieß er auf eine der Miniatursandburgen, die sich um den Strandhafer bildeten, und – bevor er seine Beine zur Zusammenarbeit sortiert hatte – verlor er das Gleichgewicht und fiel zum wer weiß wievielten Mal an diesem Nachmittag wieder auf den Grund der Mulde und landete auf dem Rücken des gut gekleideten Mannes. Der Sisyphusmythos im Miniformat. Sisyphus und der Stein – verkörpert in ein und demselben Wesen. Einen Augenblick focht er mit seinen sechs widerspenstigen Beinen in der Luft, dann rappelte er sich auf, erholte sich einen Moment, wippte mit den Fühlhörnern in alle Richtungen, um die Lage abzuschätzen, und begann wieder von vorn. Schnell krabbelte er über den gebräunten Rücken, fiel Hals über Kopf in den Sand, kam wieder auf die Beine und begann seine beschwerliche Wanderung aufwärts.
Der Mann in der blauen Badehose hatte sich nicht bewegt. Keinen Versuch unternommen, den Käfer abzuschütteln. Offensichtlich hatte er ihn nicht einmal bemerkt.
Er rührte sich auch nicht, als die Luft plötzlich in einem donnernden Knall explodierte. Ein paar Düsenjäger brachen durch die Schallmauer und verschwanden mit zwei leuchtenden Streifen hinter sich über dem Meer, während der Knall noch über dem Strand hing. Die Sonntagsträgheit war gebrochen. Die Leute waren aus ihrer Apathie, aus der Monotonie gerissen. Sie stützten sich auf die Ellenbogen, sahen sich mit blinzelnden Augen um, kamen überein, dass sie ebenso gut ins Wasser gehen, Eis kaufen, Bier trinken, Ball spielen oder sich die andere Seite mit Sonnencreme einreiben – sich jedenfalls etwas vornehmen – konnten. Nur der gut gekleidete Mann rührte sich nicht.
Er muss stocktaub sein, dachte Bo, der gerade an ihm vorbeikam und dessen Blick den Mann im Vorbeilaufen streifte. Entweder das oder er konzentriert sich darauf, braun zu werden. Manche waren so. Sie legten sich an den Strand oder in die Dünen und schienen ihren gan– zen Willen und ihre ganze Energie auf dieses eine Ziel zu konzentrieren: braun zu werden. Als wäre es eine Arbeit, die getan werden musste, und zwar so gut und so effektiv wie möglich. Der Kerl da war bestimmt einer von ihnen.
Damals ahnte Bo nicht, wie sehr er sich irrte, und ebenso wenig ahnte er, wie sehr er sich einmal wünschen würde, den Mann in der blauen Badehose nie gesehen zu haben.
Ein Stück weiter den Weg hinunter verlangsamte er das Tempo und wich in einem Bogen aus, um eine Familie vorbeizulassen. Er nickte ihnen zu, als sie auf gleicher Höhe waren. Er kannte sie vom Sehen. Familie Larsen. Sie hatten die letzten vierzehn Tage im Sommerhaus des Zimmermanns gewohnt. Vater und Mutter, ein Mädchen von etwa zehn und ein ziemlich ungenießbarer Junge um die sieben.
»Wer war das noch mal?«, fragte Alice Larsen ihren Mann, sobald sie außer Hörweite waren.
»Hast du ihn nicht erkannt?«, fragte ihr Mann. »Das war doch der junge Mann, der uns gegenüber wohnt. Der Sohn von Sanders. Der Kunstmaler.«
»Ja, richtig«, rief sie. »Der mit den wunderschönen Meerbildern, nicht? Wie hält er es bloß aus, bei der Hitze zu laufen?«
»Er läuft immer«, erklärte die elfjährige Lene.
»Nicht, wenn er malt«, sagte ihr kleiner Bruder triumphierend. Sie warf ihm einen Was-bist-du-doch-dumm-Blick zu, den er nicht sah, da er vor ihnen herlief. Plötzlich blieb er abrupt stehen, dann drehte er sich um und kam mit einem Gesichtsausdruck zurückgelaufen, als hätte man ihm die Butter vom Brot geklaut.
»Er hat uns wieder die Mulde weggeschnappt!«, rief er anklagend.
»Pssst«, sagte seine Mutter.
»Aber das hat er doch.«
»Er ist bestimmt Deutscher«, sagte Lene in einem Ton, als würde allein das ein schlechtes Licht auf ihn werfen.
»Wir suchen uns einfach eine andere Mulde«, sagte Larsen. »Es gibt doch genug.«
»Warum hat er dann unsere genommen?«, fragte der Junge mit unerbittlicher Logik.
»Das ist nicht unsere. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Hättest du nicht unbedingt Minigolf spielen wollen, hätten wir sie vielleicht bekommen. Jetzt hat er sie.«
»Er hat sie uns auch gestern weggeschnappt«, sagte der Junge beleidigt.