Rattes Gift - Ostfriesland-Krimi. Mischa Bach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mischa Bach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726444650
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ein kleines, viereckiges Plastikobjekt: eine 3,5-Zoll-Diskette musste das sein, seit seiner Schulzeit hatte er so etwas nicht mehr gesehen. Kopfschüttelnd steckte er das Ding in die Hosentasche, pfiff nach Lusche und lief den anderen hinterher, die bereits das Haus erreicht hatten. Er hatte es plötzlich eilig, wollte wissen, wie es weiterging, und außerdem war ihm inzwischen scheißkalt. Jedenfalls hoffte er, dass das der Grund für das Zittern war. Schnell rein ins Haus ...

      ... doch so schnell ging’s nicht. Vor dem Eingang hatte sich Geli postiert, immer noch sauer auf ihn, aber das war ja nichts Neues. Er packte Ratte am Arm: »Wenn’s nicht wegen Henry wär, wenn’s nicht sein Haus wär, wärst du schon lang nicht mehr hier«, zischte er.

      Ratte machte sich los. »Wenn’s nicht dein Schlagzeug wär, wärst du eh nicht hier.« Sprach’s und schob sich am anderen vorbei durch die Tür ins Haus.

      »Leg sie da hin. Vorsichtig.« Das war Henrys Stimme und sie kam aus Rattes Zimmer am Ende des Flurs. Rasch ging er an der Küche vorbei zu dem kleinen Raum, der ursprünglich irgendwas zwischen Vorratskammer und Kinderzimmer, vielleicht auch ein Bügelzimmer oder Hauswirtschaftsraum gewesen sein musste. Das wusste nicht mal Henry so genau, und der kannte die Bude, die irgendein Großonkel einst gebaut hatte, seit Kindertagen. Als er nach dem Tod seines Bruders das Haus mit Ratte bezogen hatte, hatte der sich ausgerechnet dieses Zimmer ausgesucht, obwohl es das kleinste von allen war. Erdgeschoss war gut, da konnte man im Bedarfsfall das Fenster als Tür nutzen. Und neben der Küche zu wohnen, bedeutete, nah an Wasser- und Nahrungsquellen zu sein, auch das machte Sinn.

      Platz brauchte er nicht viel, er besaß ja kaum etwas, und das war nur teils der Tatsache geschuldet, dass er es erstens noch nie länger als ein paar Tage oder Wochen in irgendeinem normalen, also legalen Job ausgehalten hatte, mithin meist auf Stütze, Schnorren und Illegales angewiesen war, und er zweitens seine Einkünfte seit seinem achtzehnten Lebensjahr zwangsläufig anderweitig anzulegen pflegte. Nein, es war ihm genau recht, nur das Nötigste zu besitzen, und das sah man seinem Zimmer samt spärlicher Einrichtung an. Als Bett reichte eine Matratze auf einem Teppich, für die paar Klamotten taten es eine Reisetruhe ohne Deckel und ein Wäscheständer. Zur Aufhellung genügte der große, gesprungene Spiegel gegenüber dem Fenster. Umgedrehte Holzkisten dienten als Tischchen – unterm Spiegel für Malutensilien, neben dem verbeulten Fernsehsessel für die Comics und neben dem Bett für mehr Taschenbücher, Kerzen und Kaffeelöffel. Die Decke zwischen Bett und Sessel markierte Lusches Schlafplatz.

      Jetzt konnte der Hund dort nicht hin. Glatze hatte die Frau nach Henrys Anweisungen auf der Matratze abgelegt und hockte selbst auf der Hundedecke.

      »Halt mal«, sagte Henry zu Glatze, damit der ihm helfen sollte, die Bewusstlose aus der Lederjacke zu schälen, als Ratte den Raum betrat. Kippes und Bunny standen beim Uralt-TV-Gerät und bestaunten dessen Zimmerantenne, im Zeitalter von DVBT und digitalem Sat-TV höchstens noch ein antiker Schmuckgegenstand. Zoff lehnte beim Fenster an der Wand und wusste augenscheinlich nicht, ob er bleiben oder gehen sollte. Ein Zimmer weiter rauschte die Klospülung, dann flog die Klotür krachend auf. Gelis vom Ärger schwere Schritte stapften die Treppe in den ersten Stock hinauf.

      Minka erschien fast lautlos neben Ratte in der Zimmertür. »Wir sind oben«, sagte sie in den Raum hinein, dann wandte sie sich im Gehen an Ratte: »Der kriegt sich schon wieder ein.«

      Ratte zuckte mit den Schultern. Was Geli dachte, machte oder fühlte, interessierte ihn nicht die Bohne. Er wusste ja nicht mal, was er von der Situation hier und jetzt halten sollte, und die hatte er sich selbst eingebrockt. Henry war inzwischen dabei, die Frau auf dem Bett, die noch immer keine Regung zeigte, aus ihrem Pulli zu pellen.

      Zoff räusperte sich: »Sollte das nicht lieber Minka machen?«

      Henry schaute kopfschüttelnd zu ihm hoch und entdeckte bei der Gelegenheit Ratte, der nach wie vor im Türrahmen stand. »Steh da nicht so rum. Besorg lieber Wasser, heißes, und Verbandszeug«, sagte er zu seinem Freund. Der reagierte ihm nicht schnell genug, also setzte er im Krankenpflegerkommandoton hinterher: »Sofort! In der Küche!«

      Ratte ließ den Rucksack neben der Tür fallen und tat, wie er geheißen.

      Das heißt, er tat mehr oder weniger, wie Henry ihn geheißen. Zum einen mochte die Küche dank der eingebauten Koch-/Spülzeile an Kopf- und Fensterseite noch am ehesten einem vergleichbaren Raum in einem normalen Haus ähneln, doch auch hier herrschte das Chaos, das sich überall im Haus so oder so wiederfand: gestapelte Getränkekästen, mal Leergut, mal voll, mal nicht zu erkennen, Müllsäcke und dazu ein gefährlich hoher Spülstapel. Hier etwas zu finden oder nur an den Wasserhahn zu kommen, war nicht einfach. Zum anderen entdeckte Ratte auf dem Küchentisch, um den herum lauter verschiedene Stühle standen, etwas Hochinteressantes: Hier hatten die anderen vor seiner Ankunft zusammengesessen, Bier getrunken und Risiko gespielt – und zwischen all den dazugehörigen Utensilien lag ein kleiner Haufen weißes Pulver auf einem Stück Alufolie! Jetzt nicht, dachte Ratte bedauernd, jetzt musste er erst den verdammten Wasserkessel ... Ah, da war das Ding ja, mitten auf dem Herd, verdeckt von jeder Menge Schmutzgeschirr. Also schob er das unnütze Zeug beiseite, schnappte sich den Kessel und füllte ihn mit Wasser, wobei der Geschirrstapel in der Spüle bedenklich ins Wanken geriet. Feuerzeug gesucht, Gas angezündet, Kessel aufgesetzt – Teil eins war erledigt.

      »Wow, gar nicht mal übel«, hörte er Zoffs Stimme von nebenan. Was trieben die da, zogen sie die Frau etwa immer noch aus?

      »Sieht schlimm aus«, kam es prompt von Glatze hinterher.

      »Schlimmer, als es ist«, korrigierte Henry. »Helft mir mal mit dem T-Shirt.«

      Ausziehen oder nicht, es schien noch immer um die Wundversorgung zu gehen. Verdammt, in welcher der vollgestopften Küchenschubladen war das dämliche Verbandszeug? Nach Murphy’s Law konnte es nur in dem verklemmten Teil sein, das Ratte nur mit Mühe erst einen Spalt aufbekam, bevor’s ihm im nächsten Moment mit Wucht entgegenrutschte, so dass er das Gleichgewicht verlor und krachend mit dem Zeug auf dem Fußboden landete.

      »Nichts passiert«, rief er, den Lärm mussten sie auch nebenan gehört haben.

      Doch dort war man mit der Frau beschäftigt: »Nein, nicht so«, sagte Henry, »du stützt sie, und du ziehst ihr das Ding über die gute Schulter, den Rest mach ... – Ja, genau, genau so.«

      Ratte hatte inzwischen das Verbandszeug auf dem Fußboden gefunden, wo es direkt neben die Diskette gerollt war, die er aus dem Bulli mitgenommen hatte. Alles andere stopfte er in die Lade zurück und verfrachtete sie wieder in ihr Schubfach. Er gab dem Ganzen einen kräftigen Schubs, doch jetzt klemmte es nicht mehr, und so flog die Lade krachend zu. Ratte stand da, mit dem Verbandszeug in der einen, der Diskette in der anderen Hand: Wohin mit dem Ding? Erneut suchend schaute er sich in der Küche um, und wieder fiel sein Blick auf das weiße Pulver auf dem Tisch.

      »Ratte«, rief Henry von nebenan, als könnte er so den Freund und die Physik beschleunigen. Das Wasser war noch lang nicht heiß, das hätte man ja hören müssen, dachte Ratte. Kurzentschlossen beugte er sich über den Tisch und zog sich mit der Diskette eine Line.

      »Ratte!«

      Er rollte einen Spielzettel zusammen und rief über die Schulter in Richtung Zimmer: »Was meinst du, wie schnell Wasser kocht?!« Dann zog er sich mit dem Zettelröhrchen die Line rein.

      »Egal.« Das war wieder Henry, und er schaffte es, noch genervter, noch dringender-drängender zu klingen als zuvor. »Ich brauch das Verbandszeug. Beweg deinen Arsch!«

      Mit der Hand fegte Ratte das restliche Koka notdürftig zusammen. Der zusammengeknüllte Spielzettel landete in der Spüle. Allein, wohin mit der Diskette, diese Frage hatte er noch immer nicht beantwortet.

      »Ich komm ja«, rief er schon mal, um Henry zu beschwichtigen, halb auf dem Weg zur Tür. Dort entdeckte er am Boden einen Toaster, der angestaubt neben den Bierkästen herumgammelte. Er ließ die Diskette in den einen der beiden Schlitze fallen, schnappte sich das Verbandszeug und wischte sich im Rausgehen noch mal mit dem Ärmel über die Nase. Sauer waren Henry und seine Freunde ja eh schon auf ihn.

      Zurück in seinem Zimmer war er es dann,