Die Kronprinzessin. Hanne-Vibeke Holst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanne-Vibeke Holst
Издательство: Bookwire
Серия: Die Macht-Trilogie
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726569605
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hätte er seinem Instinkt folgen und ihre Hand greifen, die Kinder aus dem Bett reißen und seine Familie in Sicherheit bringen müssen. An irgendeinen Ort, an dem kein offer you can’t refuse sie erreichen konnte. Aber er tat nichts. Er stand nur da und starrte sie an, mit hängenden Armen, bevor er ihr Glas nahm und den restlichen Cognac in einem Zug austrank. Dann ging er aus der Küche und überließ sie wem auch immer. Dem Referenten, vermutlich. Jens hustete, Thomas gab ihm Wasser. Deckte Johanne zu. Strich ihr über die hohen Wangenknochen, die sie mit ihrer Mutter gemeinsam hatte.

      »Tja«, seufzte er zu sich selbst und setzte sich auf den Boden, angelehnt an die türkisblaue Wand zwischen den beiden Betten. Hob ein Stofftier vom Boden auf. Knetete es geistesabwesend zwischen den Händen. Afrika blieb liegen. So viel stand fest. Vom Rest hatte er nicht den Hauch einer Ahnung.

      *

      Cat gab den anderen ein Zeichen, die stumm gehorchten und die Masken über den Kopf zogen. Sie waren alle fünf schwarz gekleidet, und nachdem sie ihre Masken aufhatten und nur noch die Augen frei waren, wurden sie von der Dunkelheit verschluckt, sodass sie sich kaum gegenseitig sehen konnten. Sie waren extra mit kleinen Taschenlampen ausgestattet und mit Zangen, um die Käfige aufzubekommen; sie trugen feste Handschuhe, solide Stiefel, um Bisse zu vermeiden, und jeder hatte einen Baseballschläger, um nach den Hunden zu schlagen. Darüber hinaus waren ihre Uhren synchronisiert, und sie hatten keinerlei persönliche Papiere bei sich, die etwas über ihre Identität hätten verraten können. Die Aktion war für höchstens fünf Minuten berechnet, Autofahrt hin und zurück eingeschlossen. Cat heftete ihren Blick auf das Display ihrer billigen Digitaluhr. Sie schwitzte und fror gleichzeitig in ihrem eng sitzenden, synthetischen Anzug, Adrenalin zirkulierte durch ihren dünnen Körper und ließ sie zittern, als sie mit ihrer rechten Hand die Luft durchschnitt und zählte, drei, zwei, eins, beendet von einem knallenden go! Sie lächelte ein seltenes Lächeln unter ihrer Maske, als die Formation in einem V mit ihr an der Spitze vorrückte. Das war das Größte. Der Kick, für den sie lebte. Das Kommando zu haben. Die Macht zu fühlen, wenn die anderen gehorchten, wenn sie ihre plötzliche Unsicherheit ihr gegenüber bemerkte. Diese naturromantischen Kinderärsche wussten ja nicht mal, warum sie sie erschreckte. Aber sie selbst wusste es. Sie hatten Angst vor ihr, weil sie bereit war zu sterben. Im Kampf zu fallen. Nicht für hundert oder tausend Nerze natürlich. Ihretwegen könnten die in ihren verdammten Käfigen verrotten. Sie verabscheute Nerze. Der Gestank, den der Wind von den Käfigen herüberwehte, als sie sich hastig und lautlos näherten, verursachte ihr Übelkeit. Sie fand, Nerze waren hässlich, bösartig und dekadent in ihrer Überzüchtung. Sie hasste sie auf dieselbe Weise wie die Oberklassen-Hühner, die Pelz trugen. Und das war es, worum es ihr ging. Hass und Rache. Für diese Sache war sie nicht nur bereit zu sterben. Für die war sie auch bereit zu töten. Das mit den Nerzen war nur ein Anfang. Eine Übung. Ein Pilotprojekt. Militärisches Training. Die anderen glaubten, es wäre ein Scherz, eine Art autonomer Ironie, dass sie die Gruppe Grüne Guerilla getauft hatte. »Sollen wir den Umweltminister kidnappen, oder was hast du vor?«, hatte Teis in seiner etwas zu höhnischen Art gefragt. »Kann gut sein«, hatte sie mürrisch geantwortet. »Du weißt doch nicht mal, wie unser Umweltminister heißt!«, hatte er besserwisserisch gefeixt. Drecksakademiker-Blage. »So what?«, hatte sie geknurrt. Seither hatte sie es sich gemerkt. Søren Schouw. Ein Scheiß-Arschloch. Das waren sie alle zusammen. Von rechts bis links. Korrupte Bonzen der ganze Verein.

      Sie waren vorne. Sie konnten die Nerze hinter dem Maschendraht kratzen hören. Cat blieb stehen. Lauschte. Kein Hund. Bis jetzt. Sie hatte Angst vor Hunden. Die einzigen Tiere, die ihr etwas bedeuteten, waren Kühe. Sie liebte Kühe. Liebte ihre großen, braunen, treuen Augen. Ihre Art, endlos zu kauen. Ihre großen, schweren Körper. Als Kind war sie oft nach der Schule zu ein paar Feldern außerhalb der Stadt geradelt, wo eine große Herde schwarzbunter Kühe auf der Weide graste. Sie rief nach ihnen, gab ihnen Namen und suchte sich besondere Lieblinge aus, die sie zwischen den Ohren kraulte und denen sie sich anvertraute. Sie hörten ihr zu, leckten ihre Hände mit ihren rosaroten Zungen, verstanden ihre Einsamkeit. Ihre Eltern waren besorgt um sie. Sagten sie. Sie glaubten, sie triebe sich in der Stadt rum. Wäre in schlechte Gesellschaft geraten. Aber dann waren da die Sommersprossen und die roten Wangen nach der langen Fahrradtour, von der sie nichts erzählte. Sie hatten ihr Leben im Krankenhaus, sie hatte ihres. Okay? Okay, lächelten sie verunsichert von ihrer eigensinnigen Tochter, die plötzlich die fixe Idee hatte, kein Fleisch mehr essen zu wollen. Sie weigerte sich, »ihre Freunde zu essen«. Danach kassierte sie alles ein, was sie besaß, das aus »toten Tieren« hergestellt oder verarbeitet war. Schuhe, Tasche, Jacken, Haarbürsten. Da war sie elf. Ihre Eltern lachten noch immer. Nachsichtig, wie sie gegenüber allem gewesen waren, was sie sich vorgenommen hatte, seit sie als lebender Zwilling auf die Welt gekommen war, Schwester eines tot geborenen Jungen. So glücklich waren sie darüber gewesen, wenigstens eines behalten zu dürfen, dass sie das lavaförmige Muttermal, das den Großteil ihrer rechten Gesichtshälfte bedeckte, kaum bemerkten. Außerdem arbeiteten beide im Gesundheitswesen. Ihr Vater war Oberarzt am Krankenhaus in Bronderslev, ihre Mutter MTA, und sie vertrauten ganz und gar darauf, dass die plastische Chirurgie den Schaden beheben konnte, wenn die Zeit reif war. Aber als sie anfingen, von Transplantation zu sprechen, war sie zwölf, und da war es zu spät. Denn da sah sie mit Angst und Schrecken ein, dass ihre Eltern Mörder und kannibalische Monster waren, die nicht nur ihren Bruder getötet hatten, sondern nun auch sie demütigten, indem sie ihre Zähne in das Einzige schlugen, das sie lieb hatte, die Kühe. Als sie dreizehn war, erklärte sie ihnen den Krieg. Seit sie vierzehn war, betrachtete sie sie als Feinde. Ab achtzehn hatte sie sich geweigert, sie zu sehen. Jetzt war sie 21. Und ihre Eltern hatten längst aufgehört, sich zu amüsieren.

      »Teis!«, sagte sie halblaut gebieterisch, worauf Teis seinen großen Bolzenschneider herauszog und geschickt ein Loch in das Tor der mit einer Betonmauer umgebenen Farm schnitt. Es war eine der kleinen – weder mit Elektrozaun noch mit fotozellengesteuerten Scheinwerfern. Nicht mal ein frei laufender Schäferhund. Das war fast zu einfach.

      »Action!«, befahl sie, und einen Augenblick später hörte man das Rascheln, als fünfzehnhundert Nerzpfoten flach über den Boden wuselten.

      Da war es 3 Uhr 18, und in Kopenhagen war der frühere, jetzt jämmerlich in Whisky aufgelöste Umweltminister immer noch paralysiert davon, gefeuert worden zu sein, die Entlassung brutal abgeliefert in einer kurz gehaltenen telefonischen Mitteilung, während die gerade Ernannte euphorisch den Versuch aufgab zu schlafen und resolut aus dem Bett stieg, um ihre Antrittsrede zu schreiben.

      Aus Cathrine Rorbechs Blickwinkel würde das nicht den geringsten Unterschied machen.

      »Sie war die größte Neuigkeit, unbedingt. Direkt nach der, dass Søren Schouw gefeuert worden war, natürlich. Um sich auszurechnen, dass der Mann nicht freiwillig gegangen war, ›auf eigenen Wunsch‹, wie es hieß, musste man kein Meister des investigativen Journalismus sein. Dass Frau Meyer auch ihre Finger im Spiel gehabt hatte, war ebenfalls offensichtlich. Da lag also eine gute Geschichte, die man einfach nur aufgreifen musste, wenn man fertig damit war, bei ihr Schlange zu stehen. Im Übrigen sah sie an diesem Vormittag auf dem Schlossplatz blendend aus. Sie fröstelte in ihrem kurzen Rock, der Etikette nach zu kurz, aber sie hatte schöne lange Beine, und dann hat sie ja auch dieses ländliche Vollmilch-Lächeln, das auf jeden Fall meinen wunden Punkt trifft. Den letzten, den ich noch habe, haha. Also, ich konnte sie eigentlich gut leiden, schon immer. Wünschte mir an und für sich das Beste für sie. Aber meine persönlichen Sympathien und Antipathien spielen für die Geschichte ja keine Rolle. Natürlich sollte sie ihre Chance haben. Bekam sie ja auch. Aber mal ehrlich, wie gesagt, Zeitungen müssen ja auch verkauft werden. Also, okay, wenn du so fragst – ja, ich war es, der sich das mit dem »Christbaumschmuck« ausgedacht hat. Was nett gemeint war, auch wenn sie stinksauer wurde, als sie es am nächsten Tag auf Seite i entdeckte. Ich hatte sie tatsächlich am Telefon. Persönlich. Aber sie hätte es ja auch einfach bleiben lassen können, in einem so kurzen Rock aufzutauchen und dann so zu lächeln.«

      Das Lächeln zieht in den Wangen. Sie merkt selbst, dass es etwas zu breit ist, aber sie ist kurz davor, in hysterisches Lachen auszubrechen. Es ist zu surrealistisch, zu weit hergeholt: Sie war gerade eben zur Audienz bei der Königin gewesen, die ihr, ein wenig unterkühlt, aber mit verblüffender Präsenz dafür gedankt hatte, dass sie sich des Amtes angenommen hatte