Kirsten Holst
Volles Haus - Skandinavien-Krimi
Saga
Volles Haus - Skandinavien-Krimi ÜbersetztHanne Hammer Original Det tomme husCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1982, 2020 Kirsten Holst und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711455869
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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1.
Der frühe Märzmorgen breitete sich fahl und zögerlich über der Stadt aus wie ein Rekonvaleszent, der nur notgedrungen das warme Bett verlässt. Auf der Straße hatte sich die leichte Decke aus in der Nacht gefallenem Schnee durch die vielen Autoreifen in einen schmierigen Morast verwandelt, der die Beine der wenigen Fahrradfahrer, die dem Wetter trotzten, mit Matsch bespritzte, und auf dem Gehweg bewegten sich die Fußgänger in dem Versuch, das Gleichgewicht zu halten, mit Storchenbeinen an den Hauswänden entlang. Hier und da waren einige früh aufgestandene Hausbesitzer oder Hausmeister mit Schneeschiebern beschäftigt und man hörte den eintönigen Laut von Metall, das auf Stein trifft.
Der Hafen machte keinen sonderlich belebten Eindruck. Ein kalter Wind füllte die Nasenflügel mit dem unvermeidlichen Geruch nach Teer, Tauwerk, Öl, Fjord und Industriefisch und rief vage Erinnerungen an Austern und Bier wach. Auf Deck eines Küstenmotorschiffs tauchte der Koch auf und goss mit einem Platsch einen Eimer schmutziges Wasser über die Reling, sodass von den niedrigen eis grünen Wellen des Hafens ein bleicher Dunst aufstieg. Etwas weiter entfernt pfiff eine Rangierlok und sauste fast ausgelassen über die Schienen. Zwei Vorruheständler, die sich noch nicht daran gewöhnt hatten, morgens länger zu schlafen, klapperten, die Hände in den Taschen, auf ihren gummibesohlten Holzschuhen leise die Hafenstraße hinunter, nachdem sie eine Runde um ihren alten Arbeitsplatz gedreht hatten. Beide warfen im Vorbeigehen einen Blick auf das leer stehende Haus und der eine machte eine Bemerkung, die im Geräusch eines vorbeifahrenden Tankwagens unterging.
In dem grauen Morgenlicht, das den Verfall verschleierte, sah das leer stehende Haus mit seiner weißen Fassade, den reinen, klassizistischen Linien und der imposanten Eingangstür fast vornehm aus. Wie ein Palais aus dem vorigen Jahrhundert, in dem ein wohlhabender Reeder sein Domizil gehabt hatte und von dem aus er die Ankunft seiner Schiffe im Hafen hatte beobachten können. In Wirklichkeit war es ein Hotel gewesen, doch mit Sicherheit eins der vornehmsten der Stadt. Hier, auf der Sonnenseite des Hafens, spielte die Musik, hier florierte das Vergnügungsleben und das alte Hotel war das Herzstück all dessen gewesen. Aber dann hatte die Entwicklung eine andere Wende genommen und das Hotel verlor erst langsam und dann immer schneller seinen Glanz, um schließlich von der Gemeinde übernommen und zu Wohnungen umgebaut zu werden. Und als auch diese nicht mehr den Anforderungen entsprachen, wurden der Abriss des Gebäudes und die Errichtung eines neuen Wohnblocks beschlossen. Doch zuerst mussten die Bewohner raus, mussten neue Wohnungen für sie gefunden werden, was nicht von einem Tag auf den anderen ging, und als auch der letzte Mieter, eine alte Witwe, sich schließlich zu sterben entschlossen hatte, um der Gemeinde weitere Mühen zu ersparen, und das Haus endlich leer stand, war auch die Gemeindekasse leer und das Bauvorhaben wurde eingestellt. Jetzt stand das Haus einfach an dem Platz, den ein geschäftstüchtiger Unternehmer einmal als den besten der Stadt bezeichnet hatte, und verfiel. Den Balkon, von dem aus Herren mit Kaiser-Wilhelm-Bärten und Damen mit Sonnenschirmen und hellen Kleidern das Leben im Hafen betrachtet hatten, schien nur die Erinnerung an die vergangene Pracht aufrecht zu halten; mehrere Fenster des Gebäudes waren kaputt und bei Tageslicht konnte man sehen, dass der Putz großflächig abblätterte. Der letzte Akt war erreicht, die letzte Szene.
In einer der oberen Etagen des Hauses erwachten langsam dessen illegale Bewohner. Der Tag streckte ein paar graue Hände hinein und tastete sich vorsichtig an die Stuckornamente der Decke heran, die die letzten Mieter, ein kreatives junges Paar, rosa und giftgrün gestrichen hatten, streifte einen Typen mit schwarzen Locken, der versuchte, einen Ofen in Gang zu bringen, sowie eine kleine Gruppe, die in der Nähe des Fensters auf dem Boden kampierte. Der Rest des Raums lag noch im Halbdunkel.
Die Hausbesetzer hatten sich aus strategischen Gründen für die oberste Etage entschieden. Zum einen war es leichter, sich hier zu verschanzen, und zum anderen ging man davon aus, dass die Polizei ihr Tränengas zuerst auf die unteren Etagen richten würde. Letzteres war eine überflüssige Überlegung, denn es war fraglich, ob das Tränengas in diesem Raum überhaupt seine Wirkung entfalten würde. Knapp zwanzig Menschen waren hier zusammengekrochen. Überall auf dem Boden lagen Matratzen herum, Schlafsäcke in allen möglichen Farben, mit und ohne Inhalt, Bücher, Zeitungen, Musikkassetten, Pappbecher, Flaschen mit Stearinkerzen und leere Blechdosen, die als Aschenbecher benutzt wurden. In einer Ecke standen eine Stereoanlage und ein Fernseher, unter dem Fenster war ein Gasradiator mit einer Elf-Kilo-Gasflasche aufgestellt worden, zu dem Ofen in der Mitte des Zimmers führte ein Trampelpfad.
Doch war die Unordnung nichts gegen den Geruch. Der Gestank in dem Raum war nahezu unerträglich. Ungewaschene Körper, Petroleum, Friteusenfett, Zigarettenrauch und feuchte Kleidung bildeten die Hauptbestandteile. Hinzu kam der unverkennbare Geruch nach Fäkalien, der das ganze Haus zu durchdringen schien. Die Hausbesetzung dauerte jetzt sechs Wochen.
Ursprünglich war das Haus von ungefähr siebzig jungen Leuten besetzt worden, die ein Jugendzentrum haben wollten – und das sofort. Inzwischen hatte sich die Zahl der illegalen Bewohner auf knapp zwanzig Personen reduziert, die noch immer in dem Abrisshaus ausharrten, in dem es weder Licht noch Heizung noch Wasser gab. Letzteres hatten die Besetzer offenbar übersehen oder als unwesentlich abgetan, obwohl es nicht lange gedauert hatte, bis alle Toiletten des Hauses verstopft waren. Einige halbherzige Versuche, Wasser zum Nachspülen in Eimern zu holen, waren im Sande verlaufen, als sich die Aufgabe als nahezu undurchführbar erwies, sodass man sich letztendlich mit dem Versuch begnügt hatte, die zu dieser Wohnung gehörende Toilette in einem halbwegs benutzbaren Zustand zu halten.
Die desertierten Rebellen hatten zumindest einige Vorteile der Zivilisation schätzen gelernt, die sie bisher als nahezu selbstverständlich angesehen hatten: fließend warmes und kaltes Wasser sowie eine Toilette mit Spülung.
Dem Typen mit den schwarzen Locken war es endlich gelungen, dem Ofen Leben einzuhauchen. Er richtete sich auf und sah zu der Gruppe am Fenster hinüber.
»Kannst du bitte einen Kessel Wasser holen, Søren?«, fragte er.
»Mach es doch selbst«, murmelte Søren mürrisch.
Der Lockenkopf sah von ihm zu dem blonden Mädchen, das neben Søren saß, und zu dem grünen Bündel, das vor ihnen auf dem Boden lag. Dann zuckte er mit den Schultern, nahm den Kessel und ging hinaus, um ihn mit Wasser aus einer Milchkanne zu füllen, die draußen stand.
»Jetzt reicht es aber, Søren!« Das blonde Mädchen sah Søren vorwurfsvoll an, während sie gleichzeitig das Mädchen in dem grünen Schlafsack tröstend streichelte. »Es reicht.«
Søren wand sich unbehaglich unter ihrem Blick.
»Ist schließlich nicht meine Schuld«, murmelte er.
»Wessen Schuld ist es dann, verdammt nochmal?«, schrie das Mädchen.
»Müsst ihr so laut schreien?«, klang es aus einem der anderen Schlafsäcke. »Ihr weckt uns doch alle.«
»Es ist Morgen, Lars«, sagte der Lockige, der gerade wieder hereinkam. »Du kannst ruhig aufstehen. Es graut ein neuer Tag.«
»Mensch, halt doch die Klappe«, sagte Lars, während er sich aufsetzte und mit fast hellwachen Augen im Zimmer umsah. »Weint sie, Winie?«, fragte er und zeigte auf das grüne Bündel.
»Was geht das dich an?«, sagte Winie. Ihr Atem stand im Raum wie weißer Nebel.
»Was