Am ganzen Körper wie gerädert und müde erhob sie sich am frühen Morgen, noch bevor Kay wach wurde.
Ich muss mich zusammennehmen, sagte sich Hanna und stellte die Kaffeemaschine an. Ein starker Kaffee würde ihr guttun, würde sie ein wenig munter machen. Sie musste an die Kinder denken, die sie brauchten. Sie konnte sich nicht einfach gehen lassen.
Hanna trank gerade die zweite Tasse Kaffee, als Kay hinter ihrem Rücken mit verschlafener Stimme sagte: »Guten Morgen, Hanna, du bist heute aber schon früh auf den Beinen. Hast du für mich auch eine Tasse Kaffee?«
»Guten Morgen, Kay. Natürlich ist noch Kaffee für dich da. Aber ich muss dich vorwarnen, er ist ziemlich stark«, erwiderte Hanna.
»Ich werde es überleben. Aber du schaust müde aus. Du hast wohl keine gute Nacht hinter dir, oder? Kann ich dir vielleicht helfen? Brauchst du einen brüderlichen Rat?«
Forschend sah Kay in Hannas blasses Gesicht. Doch sie entgegnete abwehrend: »Es ist lieb von dir, Kay. Ich habe heute Nacht auch kein Auge zugetan. Aber helfen kannst du mir nicht. Da ist etwas, womit ich mich ganz allein auseinandersetzen muss. Ich kann auch noch nicht darüber reden. Frag mich bitte nicht mehr.«
»Wie du willst. Ich werde dich nicht mit Fragen bedrängen. Aber wenn du nicht geschlafen hast, dann solltest du dich vielleicht jetzt noch ein Stündchen hinlegen.«
»Nein, es wird schon gehen. Eine Nacht ohne ausreichenden Schlaf, was macht das schon. Das haben wir ja beide bei schwierigen Fällen schon mehr als einmal durchgestanden. Ich geh gleich noch unter die kalte Dusche, danach bin ich wieder wie neu. Möchtest du heute zum Frühstück ein Ei? Ich selbst habe keinen Hunger, mir reicht Kaffee.«
»Geh du nur unter die Dusche. Ich mache mir schon selbst eine Schnitte«, sagte Kay, der merkte, dass Hanna ihn nur von sich ablenken wollte.
»Gut, dann bis gleich«, entgegnete Hanna und verschwand im Bad.
Später gingen sie gemeinsam hinunter in den Klinikbereich. Hanna war wohl etwas blasser als sonst, ließ sich aber nichts anmerken, dass nicht alles so in Ordnung war, wie es sein sollte.
Zum Grübeln kam sie dann auch nicht mehr, denn noch vor der Visite wurde sie in die Notaufnahme gerufen.
Schwester Dorte kam ihr schon aufgeregt entgegen.
»Was ist passiert, Schwester Dorte?«, fragte Hanna kurz.
»Ein Unfall im Ort, Frau Doktor. Ein Motorradfahrer hat die Gewalt über sein Fahrzeug verloren und ist in eine Gruppe von Kindern geschleudert, die gerade zur Schule wollten. Es sind zwei Kinder schwerer verletzt worden. Es muss wohl operiert werden.«
»Danke, Schwester Dorte.« Schon eilte Hanna weiter und betrat Augenblicke später das Untersuchungszimmer, in dem sie außer Kay noch den jungen Assistenzarzt Hartmut Frerichs und den Neurologen Dr. Klaus Mettner vorfand, die sich um zwei Kinder bemühten, die auf den Untersuchungstischen lagen.
»Gut, dass du da bist, Hanna. Drüben im Verbandzimmer sind noch zwei kleine Mädchen mit leichteren Verletzungen. Bitte, kümmere du dich darum, dass sie versorgt werden. Anschließend brauche ich dich dann im O.P.«
»Sofort. Aber wie sieht es bei den beiden aus? Ist es sehr schlimm? Sind das nicht die Bruhns-Zwillinge, Markus und Hansi?«
»Ja, Hanna. Die Hansi hat eine Kopfverletzung, wie schwer, ist noch nicht klar. Aber der Markus hat innere Verletzungen. Ich muss das nur noch abklären, dann bringen wir ihn sofort in den Operationssaal. Es wird schon alles vorbereitet.«
Kay untersuchte den Jungen weiter, und Hanna eilte einen Raum weiter, wo Schwester Elfie zwei weinende Mädchen, deren Alter Hanna auf sieben oder acht Jahre schätzte, tröstete und dabei begann, blutende Schürfwunden zu reinigen.
Die Verletzungen waren zum Glück ungefährlich und deshalb rasch versorgt. Da aber beide noch unter dem Schock des Unfalls standen, sagte Hanna zu Schwester Elfi: »Ich schicke Ihnen noch Hilfe, und dann mit beiden hinauf auf die Station. Wir behalten sie vorsichtshalber für zwei Tage bei uns in der Klinik. Sollten die Eltern kommen, bitten Sie sie, zu warten, bis ich oder mein Bruder Zeit haben, um mit ihnen zu sprechen.«
»Geht in Ordnung, Frau Doktor«, entgegnete Schwester Elfi, und Hanna strich den beiden zitternden Mädchen über die Wangen und sagte weich: »Nicht mehr weinen, es ist doch alles vorbei. Schwester Elfi bringt euch gleich in ein hübsches Zimmer, und da dürft ihr euch beide richtig ausschlafen. Ich komme später noch zu euch, wenn euer Vati oder eure Mutti kommen.«
Und diesen armen Würmchen soll ich nicht mehr helfen können, schoss es Hanna durch den Sinn, als sie Augenblicke später mit eiligen Schritten die Operationsabteilung betrat.
*
Nach den bei jeder Operation üblichen Vorbereitungen betrat Hanna als Letzte den Operationssaal. Schwester Trude band ihr den Mundschutz vor und hielt ihr die hauchdünnen Operationshandschuhe, in die sie mit beiden Händen hineinfuhr.
Sie trat neben Kay, der einen letzten prüfenden Blick auf die Anästhesistin, Martina Dirksen-Andergast warf, und fragte knapp: »Was liegt an, Kay?«
»Milzriss. Können wir beginnen?«
Hanna nickte zustimmend, und mit einem kurzen Blick zu seinem Assistenzarzt und zu den Operationsschwestern Barbara und Christine, die bereitstanden, forderte er mit klarer Stimme: »Skalpell, bitte.«
Von da an ging es Hand in Hand, wie das Räderwerk einer Uhr. Niemand stellte unnötige Fragen. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte. Die Stille unter dem gleißenden Licht der Operationslampe wurde nur hin und wieder durch die klaren Forderungen Kay Martens und durch leises Klären eines der Instrumente unterbrochen.
Nach einer endlos scheinenden Zeit war das Schlimmste vorüber, und Kay konnte damit beginnen, Schicht für Schicht die Operationswunde wieder zu schließen.
»Blutdruck, Kreislauf?« Eine knappe Frage an die Anästhesistin.
»Noch alles normal«, war die Antwort, und schweigend arbeitete Kay weiter. Zwischendurch tupfte Schwester Dorte ein paar Schweißperlen von seiner Stirn, dann trat er vom Operationstisch zurück und sagte: »Bitte, übernimm du den Rest, Hanna, ich kümmere mich darum, dass wir sofort mit dem verletzten Mädchen weitermachen können. Den Jungen lass sofort zu Dr. Mettner auf die Intensivstation bringen.«
Hanna schloss die letzte Naht, legte eine dicke Mullkompresse auf die geschlossene Wunde und befestigte sie mit einigen Heftpflasterstreifen, während Hartmut Frerichs die Tropffusion anlegte. Der schmale Jungenkörper wurde anschließend vom Operationstisch auf eine fahrbare Trage hinübergehoben und von Schwester Trude aus dem Operationssaal zur Intensivabteilung gefahren.
Keine zehn Minuten später stand das Team um Kay und Hanna wieder für die nächste Aufgabe bereit.
Hansi Bruns hatte es am Kopf und der rechten Gesichtshälfte erwischt. Zu Kays großer Erleichterung stellte sich während der Operation heraus, dass die Verletzung am Kopf nicht ganz so schlimm war, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Wenn keine zusätzlichen Komplikationen auftreten würden, und das hofften alle von ganzem Herzen, würde auch Hansi wieder völlig gesund werden, würde keinen Schaden zurückbehalten. Nur eine Narbe im Gesicht, von der Schläfe, am Ohr vorbei bis zum Kinn, würde das Mädchen wohl noch eine lange Zeit an diesen Unfall erinnern. Aber auch da würde sich später durch eine kosmetische Korrektur etwas ausgleichen lassen.
»Weißt du schon Genaueres, wie es zu diesem schrecklichen Unfall hatte kommen können, Kay?«, wollte Hanna wissen, als sie nach der zweiten Operation neben ihrem Bruder am Waschbecken stand, um sich zu reinigen.
»Ich weiß nur, dass ein Motorradfahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hat, Hanna. Wahrscheinlich überhöhte Geschwindigkeit. Es ist manchmal schon ein Kreuz, wie diese jungen Burschen ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen durch die Gegend rasen. Es ist schlimm, dass noch nicht einmal in geschlossenen Ortschaften besser aufgepasst wird. Der