Bei jeder Gelegenheit wurde gesungen und musiziert im Hause. Gesang erfüllte auch während der Hausarbeiten die Räume. Unsere gesanglich und musikalisch begabte Zusammensetzung der Schüler erlaubte es, im Laufe der Monate vier Kassetten mit beliebten Liedern herauszugeben, drei auf Deutsch und eine auf Französisch. Jeder der „Soldaten Jesu Christi“ war willens, zum guten Gelingen des Aufenthaltes beizutragen.
Was ich als Kind aus den Bergen nun in der Stadt oft sehr vermisste, war die freie Natur. Meine Kindheit hatte ich mehr draußen als im Inneren eines Gebäudes zugebracht. Ich hätte als eine Art Halbwilde bezeichnet werden können und tat mich jetzt schwer, über längere Zeit ohne frische Luft auszukommen. Nicht dass es am regelmäßigen Lüften gefehlt hätte – wir sperrten die Fenster bisweilen weit auf –, aber es kam meist nur mehr oder weniger verbrauchte Stadtluft herein. Das war überhaupt nicht zu vergleichen mit einer würzigen, frischen Brise aus den Bergen. Die Männer hatten die Gelegenheit beim Schopf gepackt und joggten frühmorgens auf einem Waldweg zur Aare hinunter, um sich mit frischer Luft für den Tag einzudecken. Warum wir Frauen das nicht fertigbrachten? Dazu hätten wir wohl früher aufstehen müssen. Ich nahm allerdings jede Gelegenheit dankbar an, das Haus verlassen zu dürfen oder mit anderen Leuten zusammenzutreffen.
Unterwegs im Mattenquartier
Dazu gehörten Besuche zu zweit von Haus zu Haus im Berner Mattenquartier, dem ärmsten Viertel der Stadt Bern. Diese Besuchseinsätze waren neu und ungewohnt für mich, eine echte Herausforderung. Ich musste mich immer wieder dazu überwinden. Wir sahen in Zustände hinein, von denen wir kaum wussten, dass sie existierten. Für städtische Verhältnisse waren die Wohnungen und Einrichtungen zum Teil sehr primitiv. Dabei war ich ja von zu Hause aus absolut nicht auf Luxus getrimmt. Oft wurden uns Türen vor der Nase zugeschlagen, andere taten sich weit auf, wenn Leute uns in unseren Heilsarmeeuniformen erkannten. Einzelne waren froh, sich ihre Not von der Seele reden zu dürfen. Auf diese Weise wurden wir mit so manchem Schicksal und manchem Familiendrama konfrontiert. Das erweiterte unsere Horizonte im Blick auf die tiefen menschlichen Bedürfnisse. Gewisse Anliegen gaben wir dem Hilfsposten der Heilsarmee in Bern weiter. Die dafür verantwortlichen Offizierinnen leisteten praktische Hilfe im Haushalt, sei es während des Krankenhausaufenthaltes einer Mutter oder in anderen Notsituationen. Sie begleiteten Kranke zum Arzt, kümmerten sich um Pflegebedürftige zu Hause, veranlassten, wenn nötig, eine Krankenhauseinweisung oder trafen andere Anordnungen. Wir durften Menschen ermutigen, sich ganz persönlich an Gott zu wenden und von ihm Hilfe zu erwarten. Wir selbst erlebten ja täglich diese Hilfe, indem wir uns direkt an Gott richteten, vor ihm unsere Anliegen ausbreiteten, sei es allein oder in der Gruppe. Immer wieder erfuhren wir Gottes Eingreifen in bestimmten Situationen. So oft wurde mir persönlich Mut und Gelingen geschenkt, wo mir vor einer Aufgabe graute, vor etwas Neuem, Fremdem vielleicht. Hinterher fühlte ich mich glücklich und dankbar, dass ich es mit Gottes Hilfe geschafft hatte. Wenn die Leute im Mattenquartier es wünschten, beteten wir auch mit ihnen. Bei diesen Besuchen wurden mir zum ersten Mal die Augen geöffnet für Lebensverhältnisse, die im krassen Gegensatz standen zu meinem Elternhaus, das von Liebe geprägt war.
Einen weiteren Einblick in menschliche Tragödien erhielt ich im Frauengefängnis in Hindelbank und im Männergefängnis in Thorberg. Dass unsere Frauenkreise zu Hause regelmäßig Socken strickten für die Weihnachtsbescherung der Gefangenen, war mir bewusst. Es wurden auch Pullover, Handschuhe und Mützen für Kinder und Erstlingsausstattungen für die Babys der Familien von Gefangenen angefertigt. Noch heute werden die über 1.000 Paar Socken mit großer Dankbarkeit angenommen, wie auch die Schokolade und einige andere nützliche, begehrte Kleinigkeiten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich aber unklare Vorstellungen über Gefängnisse und deren Insassen. Wir kamen zwar nicht direkt mit Straffälligen in Berührung, aber Kontakt gab es doch durch unsere Gottesdienste, die wir sehr sorgfältig vorbereiteten und bei denen wir speziell auf unsere Wortwahl achteten. Wir wollten unsere Zuhörer ja nicht verletzen, sondern sie zum Nachdenken bewegen und zu einem Neubeginn auf solider Basis ermutigen. Um das Gesagte zu unterstützen, gaben wir den Zuhörern immer auch noch Traktate oder unsere Zeitschriften in verschiedenen Sprachen weiter.
Gottes Fingerzeig
Alle diese Erlebnisse bestätigten mir, am rechten Ort zu sein. Mein Herz schlug für diese Leute. Das war allerdings nicht immer so. Gott hatte mir diese Liebe und den Glauben für solche Menschen auf ganz besondere Weise geschenkt. Damals war ich ungefähr 20 Jahre alt gewesen. Bis dahin hatte ich meine Mädchenjahre immer wieder als Kampf erlebt, und das nicht nur nach außen, sondern auch in meinem Inneren. Obwohl ich Jesus damals schon sehr liebte und ihn in mein Herz aufgenommen hatte, wusste ich, dass sich noch etwas mit mir ändern müsste. Ich war oft unzufrieden mit mir selbst. Mein ganzes Wesen war wenig ausgeglichen; mal war ich himmelhoch jauchzend und dann wieder zu Tode betrübt. Ich ließ mich sehr stark von Sympathie und Antipathie bestimmen. Dabei wollte ich doch alle Menschen gleich behandeln. So fing ich an, meine Not vor Gott zu bringen, ihm zu sagen, wie ich mir vorstellte, dass ich zu sein hätte. Gleichzeitig gab ich mir enorm Mühe, mein Ziel zu erreichen, doch vergebens. Ich schaffte es einfach nicht und war enttäuscht von mir selbst. Da zeigte Gott mir, dass ich es nicht selbst schaffen musste – und es auch nicht konnte. Das würde seine Sache sein. Er würde bereit sein, mir alles zu geben, was ich brauchte. So betete ich weiter, manchmal intensiv, manchmal weniger, manchmal auch gar nicht. Aber tief im Herzen blieb diese Erwartung, dass Gott eines Tages meine Bitte erfüllen werde. Ich wollte auf keinen Fall dieses wetterwendische, launische Wesen bleiben, das ich war und das mich in meinem künftigen Dienst für ihn nur hindern würde.
Dieses Ringen erstreckte sich wohl über mehr als zwei Jahre. Und dann kam jener Tag, an dem ich zu Hause in Adelboden in unserer Küche stand. Ich hatte bereits meinen Wintermantel angezogen und wartete auf meine Mutter. Meine Gedanken kreisten, wie schon so oft, um den Wunsch, dass Gott selbst sich mir auf irgendeine Art mitteilen würde. Da geschah etwas, auf das ich keinen Einfluss hatte. Es war, als ob ein Strahl durch mich hindurchfuhr. War ich von einem Blitz getroffen worden oder hatte ich eine elektrische Leitung berührt? Um ein Gewitter konnte es sich wohl kaum handeln, da es doch mitten im Winter war. Auch hatte ich nichts angefasst. Ich stutzte – was mochte das wohl gewesen sein? Zur gleichen Zeit spürte ich, wie ein Strom göttlicher Liebe in mich hineinfloss. Unendliche Liebe und grenzenloses Vertrauen erfüllten mich. Ich hatte plötzlich Hoffnung und Glauben auch für die hoffnungslosesten Menschen. Mit einem Mal war mir klar, dass auch sie von Gott geliebt und von ihm nicht ausgeschlossen sind, ja, dass er ihr Leben völlig neu machen konnte, wenn sie dies begehrten. Ich hatte Tränen in den Augen, so sehr war ich berührt und von einem Wonnegefühl erfasst. Gott selbst hatte mich durch seinen Geist berührt. Mehrere Tage war es mir, als schwebte ich wie auf Wolken. Es war ein herrlicher Zustand und ich wünschte mir, dass es immer so bliebe. Leider schwächte sich das starke Empfinden ab und der nüchterne Alltag kehrte zurück. Aber mein Leben hatte sich verändert. Es war eine überaus wertvolle Erfahrung, die aus mir keine Heilige machte, sich aber positiv auf mich und mein künftiges Leben auswirkte. Dieses Erlebnis half mir auch, in künftigen Schwierigkeiten durchzuhalten.
Aussendungsfeier
Wir freuten uns auf den krönenden Abschluss unserer Ausbildung, den 22. Mai 1961. Die Aussendungsfeier würde im Kasinosaal in Bern stattfinden. Schon lange im Voraus wurden Vorbereitungen getroffen, gesungen, musiziert und Sprechchöre eingeübt. Etwas vom Wichtigsten war aber, sich vor Gott bewusst zu werden, ob man wirklich bereit und willens war, das Versprechen zum Offiziersdienst in der Heilsarmee zu unterzeichnen. Darauf wurde von den Verantwortlichen größter Wert gelegt. Jeder Einzelne sollte genau wissen, worum es ging. Jeder zukünftige Heilsarmeeoffizier hatte folgendes Versprechen abzulegen:
Von Gott berufen, als Offizier oder Offizierin der Heilsarmee das Evangelium unseres Herrn und Erlösers Jesu Christi zu verkündigen, verspreche ich durch diesen feierlichen Bund:
Ich will Gott von ganzem Herzen