Die Robinson-Morde. Gretelise Holm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gretelise Holm
Издательство: Bookwire
Серия: Karin Sommer
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711345382
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ist ja auch das Innere, das ...«

      »Ich bin Legasthenikerin«, unterbrach sie Britta. »Ich habe es kaum geschafft, lesen zu lernen und im Rechnen war ich auch nicht gut. Eigentlich war ich in gar nichts gut in der Schule. Dieses Erbe wollte ich niemandem mitgeben.«

      Karin schenkte mehr Kaffee ein und dachte konzentriert über eine Antwort nach. War die Frau auf Sympathie aus oder litt sie an extremer Selbstverachtung?

      »Auf mich machen Sie einen ganz alltäglichen Eindruck und ein bisschen genetische Lotterie ist wohl immer im Spiel, wenn man ein Kind in die Welt setzt. Ich habe selbst auch keine Kinder, aber das liegt eher daran, dass ich nie den richtigen Mann gefunden habe«, sagte sie und wechselte entschlossen das Thema: »Was für ein Auftritt gestern in der Kirche, aber beim Kaffee hat Johanne sich ja wieder beruhigt.«

      »Sie ist senil und verwirrt«, sagte Britta und fügte wie beiläufig hinzu: »Und irgendwas denken sich die Alten immer aus und es gibt so viele Gerüchte.«

      »Woran ist Gustav Kwium eigentlich gestorben?«, fragte Karin.

      »Er war alt. Er war 86.«

      »Aber was war die konkrete Todesursache?«

      »Er hatte ein paar Blutgerinnsel im Herzen und schließlich hat es zu schlagen aufgehört.«

      »War er bis zuletzt bei Bewusstsein?«

      »Ja, das war er. Jedenfalls, als ich ihn zuletzt gesehen habe. Das war kurz vor 13 Uhr und kurz nach 16 Uhr wurde er tot aufgefunden.«

      »Ging es ihm sehr schlecht?«

      »Nicht besonders. Nicht schlechter als in den letzten Monaten.«

      »Aber der Sohn war doch gekommen, weil er mit dem Tod des Vaters gerechnet hat?«

      »Ja, das hat uns auch gewundert, denn in dem Stadium kann man nie wissen, wann sie sterben. Es kann Tage oder Wochen oder Monate dauern. Manche hängen sehr am Leben.«

      »Gehörte Gustav Kwium auch zu ihnen?«

      »Das ist schwer zu sagen. Anfangs – nach dem ersten Blutgerinnsel – hat er manchmal gesagt: »So alt und schwach, wie ich bin, könnt ihr mich auch gleich mit Morphium vollpumpen.« Aber dann ging es ihm wieder besser und er begann sein Protokoll zu führen.«

      »Was hat er in das Protokoll geschrieben?«

      »Er hat alle benotet und sich Notizen gemacht, als wären sie noch Schulkinder. Zum Beispiel: ›Inger-Margrethe, die sonst ein fleißiges Mädchen ist und gute Noten hat, war heute sehr unaufmerksame.‹ Ja, so etwas hat er über unsere Centerleiterin geschrieben«, sagte Britta und lachte zum ersten Mal von ganzem Herzen.

      »Was hat er über Sie geschrieben?«

      »Britta ist besser geworden, aber sie kann noch viel besser werden, wenn sie sich Mühe gibt« und derartige Ermahnungen. Das Protokoll lag offen da, sodass wir darin lesen konnten. Wir haben nur darüber gelacht.«

      »Was ist mit dem Sohn – hatte er ein enges Verhältnis zu seinem Vater?«, fragte Karin.

      »Sune? Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht. Er hat ihn jeden ersten Sonntag im Monat besucht. Aber in dieser Familie sind sie sehr vornehm und wichtigtuerisch.«

      Karin stutzte über die Charakteristik, meinte jedoch ihre Bedeutung zu verstehen.

      »Zuletzt hatte er jedenfalls Mitleid mit seinem Vater. Er hat immer wieder darauf gedrängt, dass wir ihm schmerzstillende Medikamente geben. Aber Inger-Margrethe hat nein gesagt. Nach dem Pflegeheim-Fall sind wir alle viel vorsichtiger geworden. Unmittelbar nachdem sie die Altenpflegerin eingelocht und beschuldigt hatten, 22 Morde begangen zu haben, trauten wir uns kaum noch, den Alten eine Kopfschmerztablette zu geben. Wir ließen sie liegen und schreien. Das ist nicht einmal gelogen. Jetzt hat sich alles wieder normalisiert, aber wir passen gut auf und halten alle Regeln ein.«

      »Hatte Gustav Kwium Schmerzen?«

      »Irgendwelche Schmerzen hat man wohl immer, wenn man so alt und krank ist. Und oft drängt die Familie, dass wir ihnen mehr Morphium geben. Aber manchmal wartet sie auch nur darauf, dass sie sterben, weil das das Praktischste ist ... und in dem Fall sollte man ja nicht ... es geht schließlich um die Alten. Das sollte es jedenfalls.«

      »Das Praktischste, wie denn das?«, fragte Karin.

      »Nun, manchmal, wenn es so aussieht, als würden die Alten im Sterben liegen, kommt die Familie von weither angereist. Aber wie ich bereits gesagt habe, kann es Wochen dauern, und dann werden die Angehörigen ungeduldig. Sie haben möglicherweise woanders Verpflichtungen, denen sie nachkommen müssen. In anderen Fällen ist es schon so, dass die Alten Qualen leiden, denen man besser ein Ende bereiten würde, aber wir müssen uns an die Regeln halten.«

      »Sie sind gegen aktive Sterbehilfe?«, sagte Karin in Gedanken an die Debatte, die vor einiger Zeit in den Medien geführt worden war.

      Die Frau zuckte zusammen und Karin meinte sieher zu sehen, wie noch mehr Farbe aus dem grauen Gesicht wich.

      »Ich meine nur, darüber wird ja zur Zeit viel diskutiert, weil Sterbehilfe in einigen Ländern mehr oder weniger legalisiert worden ist, in Holland zum Beispiel«, fuhr Karin erklärend fort.

      »Ja, ich bin dagegen«, sagte Britta mit tonloser Stimme und unergründlichem Gesichtsausdruck. Gleichzeitig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her und sah auf die Uhr: »Ich muss sehen, dass ich zur Arbeit komme.«

      »Vielen Dank für die Eier und den Besuch. Schauen Sie ruhig wieder einmal vorbei«, sagte Karin überschwänglich. Eigentlich meinte sie es nicht so, aber sie wollte ihr Versehen gerne wieder gutmachen. Denn die Frage nach aktiver Sterbehilfe war offensichtlich unpassend gewesen. Möglicherweise ein Tabuthema für das Personal des Altenheims, dachte sie und nahm ein undefinierbares Gefühl der Unruhe in sich wahr. Britta war sehr negativ aufgedreht gewesen und ihr Verhalten hatte unecht gewirkt. Was hatte das zu bedeuten?

      Ein Satz blieb ihr im Gedächtnis haften: Ich habe mich im Spiegel gesehen und sterilisieren lassen.

      Britta war schwindelig und sie fühlte sich unwohl, als sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Schließlich musste sie absteigen und das Rad schieben. Sie hätte noch eine Tablette mehr nehmen sollen, bevor sie von zu Hause losgefahren war.

      Panik begann sich breit zu machen. Hatte die Journalistin sie möglicherweise durchschaut? Sie blieb mit dem Fahrrad vor einer der eigenständigen Altenwohnungen stehen.

      »Frau Carstensen«, sagte sie. »Ich bin auf dem Weg ins Center, kann ich vielleicht einmal ihre Toilette benutzen?«

      Während das Wasser lief, öffnete sie vorsichtig Frau Carstensens Medizinschrank. Sie fand, was sie suchte, weil sie den Inhalt aller Medizinschränke der alten Leute kannte.

      »Ja, es stimmt schon, dass wir an jedem zweiten Dienstag die Sicherheitsgurte anlegen, denn da kommt der Festlandpolizist auf die Insel herüber«, erklärte Einar, der Leichenbestatter, mit einem wissenden Blick in den grünen Augen. Er beeilte sich zu versichern, dass diese Aussage humorvoll zu verstehen war, denn außer an den genannten Dienstagen war er ja auch Gemeindevorsteher und somit lokaler Repräsentant der Ordnungsmacht, einer der wenigen noch verbliebenen Laienpolizisten Dänemarks.

      Die Schreinerei und das Bestattungsunternehmen hatte er von seinem verstorbenen Vater übernommen. Die Arbeit als Gemeindevorsteher war später hinzugekommen und darüber hinaus war er noch der Musiker und Disc-Jockey der Insel. Er spielte bei den traditionellen Festen der Älteren auf der Elektro-Orgel und kam mit seiner Diskoanlage mit großen Verstärkern und blinkenden Lampen, wenn die Jungen und Wilden sich amüsieren wollten.

      Er pflegte zu sagen: »Man soll nicht all seine Eier in ein und denselben Korb legen.«

      Er muss einer von denen sein, die am meisten über die Leute auf der Insel wissen, dachte Karin und betrachtete den Mann, der alle Vorstellungen, wie ein Leichenbestatter auszusehen hatte, über den Haufen warf. Das blonde, lockige Haar stand wild vom Kopf ab und das schelmische Lachen war ihm ins Gesicht gemeißelt, das noch immer