Versuch nicht, es zu verstehen, hörte sie Iwas Stimme in ihrem Kopf. Die Mutantin – die jeder so wahrnahm, als würde sie dem eigenen Geschlecht angehören, eine seltsam verwirrende Eigenschaft – war nicht nur in der Lage, Gedanken zu lesen, sondern sie auch gezielt zu senden. Das Chronogespinst beugt sich nicht unserer Logik. Das Faktotum kommt näher. Ich sehe es.
Ich kann den Kopf nicht drehen, dachte Anzu.
Ich weiß. Ich blicke zufällig in die passende Richtung. Ich beobachte es, Schritt für Schritt, doch für mich vergeht auf ... auf einer anderen Ebene keine Zeit. Ich habe keinen Herzschlag. Ich atme nicht.
Die Erkenntnis traf Anzu wie ein Schlag. Es ging ihr genauso. Kein Atem, und kein Verlangen, Luft zu holen. Für eine Sekunde – nein, keine Sekunde, denn die Zeit stand still – wollte sie Panik überfallen. Aber wieso? Es schadete ihr nicht, sonst wäre sie bereits tot.
Also starrte sie weiter geradeaus, den Blick auf die Sitzreihe vor ihr gerichtet, wenn sie sich nicht irrte, dicht an Perry Rhodan vorbei. Denn der Terraner hing zweifellos ebenso unbeweglich fest wie sie selbst. Andernfalls hätte er sich längst gemeldet.
Das Faktotum passiert mich, sendete Iwa. In den Gedanken lag ein Hauch Panik. Jetzt verlässt es mein Blickfeld!
Es folgte ein Sturm von Emotionen, die formlos blieben – sie fanden keine Worte, um sich auszudrücken. Am ehesten glichen sie Farben, die bitter schmeckten.
Fürchte dich nicht, dachte Anzu angestrengt.
Die Bitterfarben verschwanden aus ihrem Kopf, und das Faktotum tauchte in ihrem Blickwinkel auf. Zum ersten Mal sah Anzu das Gesicht.
Nur dass es keines gab.
Was sie aus der Ferne in dem Moment, in dem die kleine Gestalt sichtbar gewesen war, für einen Schleier gehalten hatte, der das Gesicht verbarg, war ein Wirbeln aus Staub. Wie in einem eng begrenzten Ministurm wirbelten winzige Partikel in der Kapuze.
Obwohl es keine Augen gab, fühlte sich Anzu beobachtet, ja geradezu seziert.
»Du bist als Erste ins große Theater meiner Meister gekommen«, sagte das Faktotum – mit welchem Mund und welchen Sprechwerkzeugen eigentlich? Die Stimme kam mitten aus dem wirbelnden Staubsturm, doch sie wehte nicht davon und wurde nicht zerrissen. »Darum werde ich dich zuerst prüfen.«
Aber Perry hat den Staubkonzess, dachte sie und konnte es nicht aussprechen. Natürlich nicht.
»Oh, du bist ja gar nicht in der Lage, etwas zu deiner Verteidigung beizutragen. Bitte.« Das Faktotum hob den linken Arm – oder den Ärmel der Kutte, der dabei zurückrutschte und an seinem vorderen Ende nicht etwa eine Hand, sondern nur sich drehende Staubschleier entblößte.
Einige Partikel lösten sich und schwebten auf Anzu zu.
Sie wollte zurückweichen, doch das Chronogespinst verwehrte es ihr. Nicht einmal ihr Herzschlag durfte sich beschleunigen; sogar das nahm ihr die Chronofesselung.
Sie fühlte eine sanfte Berührung auf dem Gesicht. Etwas blitzte auf. Sie merkte erst, dass sie sich bewegen konnte, als sie vor Schreck die Augen schloss, um sich vor der grellen Helligkeit zu schützen.
»Steh auf!«, befahl das kleine Staubwesen.
Sie gehorchte. »Mein Begleiter Perry Rhodan hat ...«
»Es geht nicht um ihn«, fiel das Faktotum ihr ins Wort. Es bewegte sich hastig, und die Kapuze raschelte. »Noch nicht. Zunächst zählst nur du. Name?«
»Kennst du ihn nicht?«
»Woher denn?«
»Das große Theater und all die Technologie ... das Zeitfeld ... kannst du nicht meine Gedanken lesen? Oder Informationen aus dem SERUN holen? Auf Informationsnetze zugreifen?«
»Wieso sollte ich das alles tun? Ich will doch nur deinen Namen wissen. Ist er so ein großes Geheimnis?«
»Anzu Gotjian.«
»Wer bist du?«
Spielt das eine Rolle?, dachte sie. Sie wählte ihre Worte sorgfältig. »Ich arbeite als Transmittertechnikerin. Ich bin Teil des Teams, das in diese Station vorgestoßen ist, damit ich ...«
»Ja, ja, das ist deine Aufgabe, aber die interessiert mich nicht. Lass mich die Frage noch einmal wiederholen. Wer – bist – du?« Es sprach jedes Wort einzeln, und bei jedem streckte es die Staubhand ein wenig weiter aus, ihr entgegen.
Anzu wich nicht zurück. Sie dachte nach. Und gleichzeitig überlegte sie, wie sie ihren Gefährten helfen konnte, nun, da sie nicht mehr im Chronogespinst festhing. »Ich bin ein Mensch, geboren auf Terra, auf diesem Planeten, und ich bin an diesen Ort gekommen, um ein Geheimnis zu lüften. Um zu verstehen, wie meine Heimat vor Jahrhunderten in dieses Sonnensystem versetzt worden ist. Eigentlich gehört dieser Planet nicht hierher.«
»Findest du? Du kamst hier aus deiner Mutter Leib. Deine Eltern und deren Eltern ebenso.«
»Die Erde ist mein Zuhause, aber ihr Ursprung liegt in der anderen Hälfte des Dyoversums.« Als das Faktotum nicht reagierte, ergänzte Anzu aus einer spontanen Eingebung heraus: »Hast du auch eine Heimat? Vorfahren?«
Sie erwartete eine barsche Antwort im Stil von Das tut nichts zur Sache oder Ich stelle die Fragen! Stattdessen sagte das Staubwesen: »Nie zuvor wollte jemand das von mir wissen. Wieso du?«
»Weil ich mich für dich interessiere.«
»Weshalb?«
»Du bist ein Lebewesen. Das ist Grund genug.«
»Bin ich das?«
Anzu zögerte. »Hast du eine Heimat?«
»Das große Theater der Evolution hat mich ausgehustet, damals, als meine Meister die erste Simulation starteten. Sie haben mich angesehen, und sie liebten mich. Also sorgten sie dafür, dass ich weiterexistiere.«
»Ich liebe das Leben ebenfalls«, sagte Anzu. »Genau das ist der Grund, weshalb ich mich für dich interessiere. Und ja – du bist ein Lebewesen.«
»Wie kannst du da so sicher sein?«
»Du denkst. Du redest. Du reflektierst deine Gedanken und triffst Entscheidungen.«
»Tue ich das?«
»Du überprüfst mich. Wie könntest du das, wenn du am Ende nicht zu einem Ergebnis kommst?«
»All das vermag eine Positronik ebenfalls.«
»Aber du bist keine. Du lebst.«
»Ich lebe«, wiederholte das Faktotum, und es klang nachdenklich, »also bin ich.« Es senkte die Staubwirbel seines Armes dicht an den Stoff der Kutte, die den Oberkörper umschloss. Oder den Sturm darunter. »Ich mag dich, Anzu Gotjian. Leider bestehst du die Prüfung trotzdem nicht. Niemand darf einfach so das große Theater meiner Meister betreten.«
»Einer deiner Herren hat Perry Rhodan einen Staubkonzess verliehen!« Anzu deutete auf den Terraner, der nach wie vor starr auf seinem Sitz verharrte, den Blick auf Sichu gerichtet.
»Das werde ich überprüfen, aber was ändert es für dich? Trägst du einen Konzess?«
»Ich bin seine Begleiterin! Er hat die Erlaubnis ...«
»Wie schade«, unterbrach das Faktotum ungerührt. »Ich mochte dich. Wirklich. So ein interessantes Leben, mit so viel Potenzial.«
Illustration: Swen Papenbrock
»Hör doch, was ich sage! Ich kam an Perrys Seite und durfte deshalb ...« Ein Kitzeln auf ihrem Gesicht, und sie erstarrte wieder. Sie sah, wie Staubkörnchen vor ihren Augen tanzten und zu dem kleinen Kuttenwesen zurückkehrten.
Sie