Er wartete die Antwort des Revolvermannes nicht ab, ging wütend zum Store, mußte am Office vorbei und warf dem auf dem Stuhl vor der Tür sitzenden John Warren einen vernichtenden Blick zu. Das breite Grinsen Johns machte den Alten noch wütender, so daß er mit Riesenschritten weiterging und gegen die halb offenstehende Ladentür trat.
Im nächsten Moment ertönte ein heller Schrei, etwas klirrte laut, und Lionel McGruder blieb erschrocken stehen. Die Tür hatte irgendwen im Herumfliegen getroffen. Im ersten Augenblick glaubte der Alte, daß er einer Frau die Tür in den Rücken getreten hatte. Während er in den Store trat, sah er den Schemel umgestürzt am Boden liegen. Dann sah er den zerbrochenen Deckel eines Glases, in dem Lutscher waren und das dicht an der Tresenkante stand. Das Glas war heil geblieben, nur der Deckel lag zertrümmert neben dem umgekippten Schemel und dem Dreikäsehoch auf den Dielen.
Der Junge richtete sich auf, hielt seinen Daumen in die Höhe und betrachtete mit zuckenden Mundwinkeln den Blutfaden, der vom Daumen über die Handfläche rann. Er mußte den Deckel gerade abgehoben haben, als die Tür gegen den Schemel geprallt war. Anscheinend hatte er sich an den Splittern des Glasdeckels geschnitten. Der Alte zerrte hastig sein Taschentuch heraus, bückte sich und faßte nach der Hand des Jungen.
»Hallo, Kid«, sagte Lionel McGruder. »Da habe ich die Tür wohl etwas zu heftig aufgemacht, wie? Zeig her! Ah, das hast du, wenn du Großvater bist, längst vergessen. Tut’s weh?«
»Nein, Mister, es brennt bloß etwas.«
Der kleine Kerl stand mit dick umwickeltem Daumen vor dem stämmigen Alten und schluckte. Von seiner Mutter oder Judy Weiser war nichts zu sehen.
»Du bist ein tapferer Bursche«, sagte Lionel McGruder. Er dachte besorgt daran, was hätte passieren können, wenn der Junge mit dem Gesicht in die zackigen Glassplitter gefallen wäre.
»Na, du weinst doch nicht? Komm mal her, Söhnchen! Nicht heulen, bekommst auch eine ganze Handvoll Lutscher.«
»Ein Mann weint nicht«, sagte der Bengel ernsthaft und ließ sich auf den Tresen heben. »Das ist nichts, worüber ein Mann weinen müßte, Sir.«
Lionel McGruder mußte lachen, strich dem Dreikäsehoch über das lockige dunkle Haar und griff dann in das Glas.
»Du hast du recht, Söhnchen, ein Mann weint nicht – niemals. Wer hat dir das denn beigebracht?«
»Mein Vater, Sir.«
»So?« fragte der Alte, und er erinnerte sich plötzlich an jemand, dem er einmal dasselbe gesagt hatte, nachdem er ihn mit ausgekugeltem Arm nach dem Sturz bei seinem ersten Ritt aus einem haufen Kakteen gefischt hat. »So? – Nun, wie heißt du denn, Söhnchen?«
»Barry, Sir.«
»Barry?« murmelte Lionel McGruder. »Und – und wie weiter? Wer ist denn dein Vater, Barry?«
»Ich heiße Barrymore McGruder, Sir«, sagte der Bengel. »Oh, die schönen Lutschstangen, Sir, sie sind ja alle zerbrochen!«
Lionel Barrymore McGruder öffnete ganz langsam die Hand. Eine Sekunde hatte sie sich zusammengepreßt und die Lutschstangen zerbrochen. Der alte Mann blickte auf die herabgefallenen bunten Lutscher, dann hob er den Kopf und sah den Jungen an. Lionel McGruder hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals und ein leichtes Zittern in seinen Knien. Er blickte auf das Haar des Jungen und sah ihm danach in die grauen Augen – und er schwieg, der alte Löwe und Narr. Er schwieg und schluckte einen vermeintlichen Kloß hinunter.
»Soso«, sagte er dann hüstelnd. »Du heißt Barrymore McGruder?«
»Ja, so heiße ich«, antwortete der kleine Barrymore McGruder dem alten Löwen. »Und wie heißt du, Sir?«
»Ich? Wie ich… Wie – was?« stotterte der Alte und kämpfte schon wieder mit dem verdammten Kloß im Hals. »Wie ich heiße? Ich – ich heiße Großvater, weißt du?«
So was, dachte der Alte, Barrymore hat der Lümmel ihn genannt. Natürlich hatte er ihn so genannt, schließlich hockte er immer bei seinem Großvater, dieser Bursche. Oder sollte er daran gedacht haben, daß sein zweiter Vorname genau wie meiner ist: Barrymore?
»Du heißt Großvater?« fragte der kleine Barrymore. »Heißt du wirklich nur Großvater?«
»Ja, Söhnchen«, erwiderte der alte Löwe.
»Bestimmt?« wollte der Dreikäsehoch wissen. »Mein Großvater sieht aber anders aus. Meine Mutter nennt ihn immer Dad, aber ich sage Großvater.«
»Ja – so?« brummelte der Alte und nahm den kleinen Kerl auf den Arm. »Hast du – äh – hast du nur den einen Großvater?«
»Nein, ich habe noch einen, aber er hat schrecklich viel zu tun und ist nie zu Hause, sagt meine Ma’m. Manchmal ist er auch krank.«
»Krank?« wiederholte der wilde McGruder. »So – krank ist er auch? Das sagt wohl dein Vater, wie? Krank – so was! Als wenn ich jemals krank…« Er hüstelte wieder, der alte Löwe, blinzelte eulenhaft. »Kannst du schon reiten, Söhnchen?«
»Nein, Großvater, nur wenn Dad das Pferd führt. Allein darf ich nicht reiten. Meine Ma’m hat Angst, ich könnte herunterfallen. Aber ich bekomme bald ein Pony und einen kleinen Sattel und – und richtige Stiefel, sagt mein Großvater.«
»So? Sagt er das, dieser Barbier, der anderen Leuten den Bart… Nun ja, sagt er das, dein Großvater? Einen kleinen Sattel und Stiefel? Will er dir wohl kaufen, oder?«
»Ja, wenn ich fünf Jahre alt bin, Großvater-Sir.«
»Soso«, machte der alte Löwe und fühlte, wie der Zorn in ihm zu wühlen begann. Was verstand denn so ein Bartschaber schon von einem richtigen Pony und einem anständigen Sattel? »Möchtest du ein Pony haben und feine Stiefel? Solche, wie dort im Regal? Und vielleicht einen Sattel, einen Sattel, einen richtigen feinen Sattel, wie es keinen schöneren für meinen Enkel – äh, für dich geben könnte? Na, wollen wir mal sehen, ob dir die feinen Stiefel passen?«
»O ja, Großvater-Sir, das möchte ich schon gern haben. Aber bis ich fünf Jahre alt bin, ist es noch schrecklich lange hin, glaube ich.«
Der Alte setzte den Jungen kurzerhand auf den Tresen, zog ihm die Schuhe aus und nahm die kleinen Stiefel aus dem Regal.
Teufel noch mal, dachte der Alte, wie seine Augen blitzten, was? Hat noch nicht mal Stiefel, der Junge. Die hier, die passen ihm, wenn sie auch nicht gerade das sind, was sie sein sollten. Immerhin, so schlecht sind sie nun auch wieder nicht. Mal sehen, was sie für eine Nummer haben, dann lasse ich ihm ein Paar machen.
»Na, Söhnchen, kannst du in ihnen gehen? Komm mal, probier’s mal aus, geh mal ein Stück!«
Der kleine Barrymore McGruder stand anfänglich, unbeweglich und stolz auf seine Stiefel blickend, vor dem Tresen. Dann machte er ein paar Schritte. Schließlich rannte er und hielt mit blitzenden Augen vor seinem Großvater an.
»Na, Söhnchen, gefallen sie dir, deine Stiefelchen? Jetzt mußt du nur noch die richtige Hose und eine feine Weste dazu haben. Da hängen die Hosen, dort liegen die Hemden. Na, nun suchen wir uns mal was aus, wie?«
Dem werde ich’s zeigen, dachte der alte Löwe, diesem Bartschaber. Ich bin schließlich auch noch da. So, her mit den Hosen, dem Hemd und der Weste. Du wirst sehen, es wird schon passen. Habe ja oft genug für seinen Vater Sachen aussuchen müssen, nachdem er keine Mutter mehr hatte und Howie so klein wie dieser Bursche hier war.
»Siehst du, Söhnchen, das nimmst du mit nach Hause, und die Lutscher packe ich auch noch dazu. Sieh mal her, eine kleine Peitsche! Die möchtest du wohl, oder? Und dein Pony, das bekommst du und einen Sattel, einen richtigen feinen Sattel, Söhnchen. Ich kaufe dir ein Pony, ich, der Großvater, hörst du?«
Der Junge stand auf dem Tresen und sah den seltsamen Großvater hin und her springen, hörte ihn leise lachen, bis das Lachen jäh erstarb, der Alte stillstand und sich umblickte, weil Stimmen laut wurden, Schritte