„Morgen fange ich mit der Orangenmarmelade an“, verkündete Mama, und Ella erwog, ob sie Susannchen schon ein wenig Orangensaft geben dürfe. Papa und der „Kastanienkopf“ gerieten in eine geschäftliche Debatte, und der jugendliche Kaspar vertraute Sibylle flüsternd an, er habe im Osterzeugnis mit Bestimmtheit einen Fünfer im Latein zu erwarten.
Endlich hob der Amtsgerichtsrat die Tafel auf. Man begab sich wieder in den Salon, um einen Mokka einzunehmen, bevor die Eltern und Tante Gudula sich zum Mittagsschläfchen zurückzogen.
„Gehen wir einen Augenblick in den Garten!“ schlug Sibylle nach einem Blick in Alexanders blasses Gesicht vor.
Sie stiegen die feuchten Stufen hinab. Er war ein kleines Wunder, dieser Garten hinter dem alten Biedermeierhaus, eingeschlossen von den Brandmauern benachbarter Mietskasernen. Efeu kletterte an ihnen empor, ein mit rotem Sand bestreuter Weg umrundete den Rasenplatz; in seiner Mitte befand sich ein Springbrunnen mit einer halbverfallenen Sandsteinfigur, eine Nixe darstellend, aus deren emporgehobenen Händen im Sommer ein silberner Wasserstrahl in die Lüfte sprang.
Sibylle atmete tief auf. Es rieche nach Frühling, behauptete sie.
„Sieh nur, die Schneeglöckchen kommen schon!“
Aber Alexander stand mit hängenden Armen, seine blauen Augen waren müde und glanzlos.
„Ach“, sagte er, „diese Sonntage!“
Es klang so hoffnungslos, daß Sibylle lachen mußte.
„Sie meinen es nicht so schlimm“, sagte sie begütigend. „Du darfst dich nicht zu sehr beeindrucken lassen.“
„Es ist ja immer das gleiche.“ Alexander steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden. „Für sie gilt nur der äußere Erfolg. Künstler werden in Bausch und Bogen als Faulpelze und Taugenichtse abgetan. Schon Menschen, die Bücher lesen, sind dem Amtsgerichtsrat verdächtig. Wie oft habe ich das gehört: ,Was, du liest schon wieder? Du hast wohl nichts Besseres zu tun?‘ “
Sibylle griff nach seiner Hand. „Warum nimmst du es tragisch? Eines Tages wirst du auch Papa von dir überzeugen.“
„Ich lege keinen Wert darauf“, behauptete Alexander verbissen. Aber Sibylle wußte, wie er nach Anerkennung hungerte und immer aufs neue unter dem Unverständnis der Seinen litt.
„Du wirst es schaffen“, sagte sie mit Nachdruck, „und wenn du eines Tages ganz groß dastehst — —“
„Dein Glaube an mich ist rührend“, unterbrach Alexander spöttisch, aber der warme Druck, mit dem seine Hand die ihre umschloß, widerlegte den Klang seiner Worte.
Schweigend umkreisten sie das Rasenrondell; ein Sonnenstrahl stahl sich durch die Wolkendecke, die dünne Eisschicht am Boden des Brünnleins glitzerte, und der steinerne Leib der Nixe schimmerte feucht. „Im Hofgarten gibt es gewiß schon Krokusse“, sagte Sibylle träumerisch.
„Optimist!“ knurrte Alexander.
3.
Sibylle räumte auf. Sie breitete die Decke über den Diwan und wedelte mit dem Staubtuch spielerisch über die Gegenstände auf dem Toilettetisch hin. Die Tür zum Vorflur stand offen und gewährte ihr einen Ausblick auf die beträchtliche Rückseite ihrer Zugeherin, Frau Genoveva Natterer. Frau Natterer — Alexander hatte sie die Natter im Komparativ getauft — kniete am Boden, eifrig bestrebt, die Wasserfluten wieder aufzuwischen, die sie reinigungshalber kurz zuvor aus einem Eimer in den Flur ergossen hatte. Sie war, rein äußerlich betrachtet, eine Frau von Format. Außerdem besaß sie neben den Vorzügen des Fleißes und der Ehrlichkeit einen starken Sinn für das Quadratische. Nachdem sie aufgeräumt hatte, standen alle Dinge viereckig zueinander. Vergebens hatte Sibylle sich bemüht, Frau Natterers Auge für die zwanglose Anordnung der Gegenstände in ihrer Wohnung zu schärfen, die Natter im Komparativ beharrte eisern auf einer Weltanschauung, in der Quadrate gleichbedeutend mit Ordnung waren.
Aus dem Atelier kam Alexanders Stimme: „Eins, zwei und drei! Rhythmus, wenn ich bitten darf! Und Fis! Herrgott, Mensch, spielen Sie doch endlich Fis! Vorzeichen sind kein Buchschmuck!“
Sibylle lächelte in sich hinein.
Armer Herr Dimpflinger! Seine Begabung stand im umgekehrten Verhältnis zu der glühenden Begeisterung, die er dem Klavierspiel entgegenbrachte. Er mühte sich buchstäblich im Schweiße seines Angesichts, er rang mit dem Genius, der sich ihm hartnäckig versagte. Wenn er zur Stunde kam, die gelbe Notenmappe unter dem Arm, ein erwartungsvolles Lächeln um die Lippen, war es ihm anzusehen, daß er geübt und sich redlich geplagt hatte. Aber waren es Hemmungen, die ihn befielen in dem Augenblick, da es galt, sein Können zu beweisen, war es seine unglückliche Liebe zur Kunst? Sobald er am Flügel saß, schien er von allen guten Geistern verlassen.
Nach den Stunden mit Herrn Dimpflinger lief Alexander händeringend im Atelier umher und rief, es sei hoffnungslos, ganz und gar hoffnungslos, er habe als anständiger Mensch die Pflicht, von jeder weiteren musikalischen Betätigung abzuraten. Aber Sibylle widersprach. Man dürfe keinen Menschen seines Steckenpferdes berauben; es sei sehr wahrscheinlich, daß die Stunden, die Herr Dimpflinger am Klavier verbringe, zu den glücklichsten seines Lebens zählten.
„Ausgerechnet Beethoven will er spielen, der Unglücksmensch“, berichtete Alexander, „die Appassionata! Hat man so etwas schon gehört! Ich schwöre dir: eher bringe ich es zum Trapezakrobaten, als Dimpflinger zur Appassionata!“
Sibylle mußte daran denken, während sie Herrn Dimpflinger an einer Haydn-Sonate herumstottern hörte. Der Montag war ein schwarzer Tag für Alexander. Am Nachmittag kam der 12jährige Gustl Felgentreff. Justizrat Felgentreffs hatten die unter der Birkschen liegende Wohnung im dritten Stock inne. Gustl, ihr einziges Kind, das sich obendrein erst nach fünfzehnjähriger Ehe eingestellt hatte, war ein Lausbub von hohen Graden. Seine Eltern jedoch hielten ihn für ein Wunderkind, und es war Sibylle zu Ohren gekommen, daß Frau Felgentreff den übrigen Hausbewohnern gegenüber Alexander für die mangelnden Fortschritte ihres Sohnes verantwortlich machte.
Den Beschluß bildete an diesem Tage Fräulein Glut, Mimi Glut. Ohne eigene Ambitionen in bezug auf die Kunst des Klavierspiels, gehorchte sie dem Gebot ihrer Eltern, die der altmodischen Ansicht huldigten, eine gewisse Fertigkeit auf dem Klavier lasse ein junges Mädchen begehrenswert erscheinen. Dabei gab sich Mimi Glut durchaus keinem Irrtum hin, wenn sie sich auch ohne dies begehrenswert fand. Schwarzlockig, mit Mandelaugen und dem törichten Lächeln eines Mannequins hatte sie alle Aussicht auf Erfolg beim männlichen Geschlecht.
Sibylle war fertig. Sie beschloß, auszugehen und bei dem Geschäft, für das sie arbeitete, nachzufragen, ob etwas von ihren Sachen verkauft worden sei. Ein Blick in die Zigarettenschachtel, darin sie ihr Haushaltungsgeld aufbewahrte, hatte sie belehrt, daß wieder einmal Ebbe drohte.
Sie setzte vor dem Spiegel den Hut auf. Polster, seine Chance witternd, sprang jaulend und kläffend an ihr hoch, er rannte in dem kleinen Flur hin und her und gebärdete sich wie ein Besessener.
„Hundsviech, greisliches“, schalt die Natter im Komparativ, während Alexanders Kopf, rot wie eine Päonie, aus der Tür fuhr.
„Ruhe!“ donnerte er. Sibylle hatte ihn im Verdacht, daß seine ganze Verzweiflung über Herrn Dimpflinger sich in diesem Ausruf entlud.
Draußen flutete ihr heller Sonnenschein entgegen. Die häßlichen Häuser waren freundlich übergoldet, eine Ölpfütze am Straßenrand spiegelte die Sonne in allen Regenbogenfarben wieder. Es war einer jener Föhntage, die auf eine beglückende Weise über das wahre Gesicht der Jahreszeit hinwegtäuschen.
Neben dem trübseligen Café an der Ecke betrieb die Witwe Penzkofer einen Obst- und Gemüseladen. Sie stand, an etwas Grauwollenem strickend, in der Ladentür und grüßte freundlich.
„Frische Orangen