Ulrike erriet den Zustand und besänftigte ihn. Sie hatte eine Art, dem Partner im Gespräch das Stich- und Gegenwort zu erlassen und es ihm anzudichten, die diesem die Illusion gab, er trage das beste Teil zur Unterhaltung bei, und damit verpflichtete und schmeichelte sie aufs feinste. Sie brachte Josephe Blumen mit. Sie verstand es, in der Küche in fünf Minuten exquisite kleine Leckerbissen zu bereiten, mit nichts, einem Löffel Mehl, einem Eidotter, einer Hühnerleber und ein paar Gewürzen, und servierte das Erzeugnis mit dem listigen Stolz eines italienischen Garkochs. Es war herzbezwingend. Solche Wohlgerüche hatten die Myliusschen Gemächer noch nie durchflutet. Therese schüttelte den Kopf, Lothar schnupperte und sog gierig den nahrhaften Dampf in die Nase; aber dann musste Luftzug veranstaltet werden, um die Spuren der kulinarischen Ausschweifung zu verwischen, bevor Mylius nach Hause kam.
Auch zu regelmässigen kleinen Spaziergängen suchte sie Josephe zu bewegen, doch vermochte sie sie nur ein- oder zweimal dazu, denn Spazierengehen war nach den Myliusschen Anschauungen ein Luxus, den sich nur Aristokraten und Komödianten gestatten durften, und Josephe wünschte sich an das Gesetz zu halten, welches das innere Leben der Familie bestimmte. Lieber wollte sie auf die angenehme Zerstreuung verzichten, die ihr Ulrikes munteres Geplauder bot. Oft horchte sie staunend; denn durch diese oder jene Bemerkung, ein hingeworfenes Wort bloss, gewann sie Einblick in Dinge, in Verhältnisse, die ihr völlig unbekannt waren und ihre Phantasie lebhaft beunruhigten.
„Sie verwöhnen mir das Kind, liebe Ulrike“, sagte Christine, und man sah ihr an, dass sie glücklich darüber war.
Ulrike antwortete, solch ein Geschöpf könne gar nicht genug verwöhnt werden; Josephe brauche Liebe, Wärme und Sorgfalt wie eine Blume im Winter; gern würde sie mit Josephe ein paar Tage ins Gebirge reisen, wenn sichs machen liesse; es wäre für ihre Gesundheit wie für ihren Gemütszustand gleich heilsam und besonders kostspielig wäre das Unternehmen ja nicht. Christine ergriff den Gedanken mit zaghafter Freude, aber sie konnte sich nicht entschliessen, mit Mylius darüber zu sprechen; es war leicht vorauszusehen, dass ein so verwegenes und die Ordnung durchbrechendes Projekt seinen heftigsten Unwillen herausfordern musste. Ulrike konnte sich nicht enthalten, ihr Vorwürfe über diese Schwäche und Feigheit zu machen, aber Christine erwiderte ernst, darin bestünde nun einmal ihr Leben; ihre Aufgabe sei es, Reibungen zu verhindern, Unfrieden zu ersticken und zu sorgen, dass sich nirgends Zündstoff bilde. „Es ist eine schwere Aufgabe, und ich spüre sie in allen Gliedern“, fügte sie hinzu.
„Ganz gewiss; die personifizierte Schutzvorrichtung; ob aber auch eine dankbare, wird die Zukunft lehren“, sagte Ulrike trocken.
„Kinder müssen an ihren Vater glauben wie Untertanen an ihren Fürsten und wie die Frommen an ihren Gott,“ fuhr Christine fort, „gerät der Glaube einmal ins Wanken, dann geht alles drunter und drüber.“
„Das wollen wir nicht hoffen,“ erwiderte Ulrike scheinbar erschrocken, „malen Sie nur nicht gleich den Teufel an die Wand. Also wird es nichts mit der kleinen Reise ins Gebirge?“
„Es kann leider nicht sein,“ sagte Christine, „vorläufig nicht. Übrigens hab ich mit Josephe selbst schon davon gesprochen und sie will absolut nichts davon hören. Sie weiss, dass es Schwierigkeiten und Kämpfe gäbe, und es wäre ihr unerträglich, sich als die Veranlassung dazu zu wissen.“
Von dem letzten Teil dieses Gespräches, das in Christines Zimmer stattfand, wurde Esther zufällig Zeugin und lauschte stumm, mit grossen Augen. Ulrike begab sich zu Josephe, der sie etwas vorzulesen versprochen hatte, und Josephe erwartete sie bereits. Sie sass mit einer Stickerei am Fenster und lächelte ihr freundlich entgegen. Es war zwölf Uhr vorüber, als sie begann, und mit Kraft und Verständnis las sie Stellen aus Amaranth, aus Stifters Hochwald, aus Hamerlings König von Sion; dann legte sie die Bücher beiseite und rezitierte auswendig, in englischer Sprache, zwei lange Gedichte von Tennyson und die Abschiedsstanzen aus Byrons Childe Harold.
Nach den letzten Versen erscholl beifälliges Händeklatschen, und sie fuhr bestürzt herum, wie wenn sie den Eintretenden nicht gehört hätte; sie hatte ihn aber wohl gehört: es war Mylius, der nun bedächtig den Kopf wiegte und mit bewundernd emporgezogenen Brauen sagte, ein solches Talent sei alles Lobes würdig; ob sie ausser der englischen noch eine andere Sprache beherrsche? Zu dienen, erwiderte sie leichthin, Französisch und Italienisch fliessend, Polnisch und Spanisch zur Not. Wann sie denn Zeit und Gelegenheit gehabt, das alles zu lernen? Da müsse sie doch unendlichen Fleiss drangesetzt haben? O nein, sagte sie; in den sechs Jahren, seit sie aus dem Elternhaus fort sei, habe sie mit so vielen Leuten aus aller Herren Länder zu tun gehabt, dass sie sich die Sprachen spielend angeeignet habe. Wenn man mit betrügerischen Agenten oder einer hochmütigen und schlechtgelaunten Lady oder Vicomtesse beständig um den letzten Schilling raufen müsse, flögen einem die Vokabeln schnell auf die Zunge und Syntax und Grammatik gäben sich von selber. Natürlich habe sie auch gelernt, aber der beste Lehrmeister sei das Schicksal.
„Also eine Perle“, meinte Mylius schmunzelnd.
„Eine Perle? möglich,“ versetzte sie lachend, „doch leider ohne Fassung und noch nicht mal aus der Muschel.“
„Immerhin, mein Kompliment,“ sagte Mylius; „eine junge Person wie Sie scheint mir berufen, in der Welt ihr Glück zu machen.“
Da Ulrike scharmant zu erröten wusste, schmeichelte die Anerkennung dem, der sie spendete, und erhielt ihn zugleich tributpflichtig. „Was sagen Sie zu Ihrem Vater?“ wandte sich Ulrike an Josephe, als Mylius das Zimmer verlassen hatte; „er ist ja gar nicht der Wauwau, für den man ihn ausgibt. Ein vollendeter Kavalier.“
„Wauwau? davon weiss ich nichts,“ erwiderte Josephe stirnrunzelnd; „dass er sich zu benehmen versteht, ist mir nichts Neues.“
Ulrike biss sich auf die Lippen.
Als sie am andern Nachmittag kam, war Christine mit Josephe ausgegangen. Esther und Aimée sassen am Tisch im Wohnzimmer und hatten einen abgegriffenen Schmöker aus der Leihbibliothek vor sich liegen, in den sie gemeinsam versunken waren. Wer früher mit der Seite fertig war, musste auf die andre warten. Sie erwiderten mürrisch, ohne emporzublicken, Ulrikes heiteren Gruss, und Lothar, der mit lächerlich grossen Schritten, die Hände auf dem Rücken, durch das Zimmer marschierte, schielte von Zeit zu Zeit grimmig nach ihr hin. Ulrike streifte die Handschuhe ab, musterte von ihrer schlanken Höhe herab alle drei erstaunt und fragte mit emporgezogenen Brauen: „Was ist los mit euch?“
„Nichts Besonderes“, fauchte der Knabe mit zänkischer, doch unsicher stotternder Stimme und pflanzte sich vor ihr auf, „wir wollens uns bloss nicht mehr gefallen lassen, dass Josephe alles haben soll und wir gar nichts. Sie ist ohnehin schon Mutters Schosskind, und jetzt wollen Sie auch noch eine Erholungsreise mit ihr machen. Wozu denn? Was mischen Sie sich denn in unsere Familienangelegenheiten? Wir erlauben das einfach nicht, verstehen Sie?“
Weiter kam er nicht; es gab einen Klatsch, und er hatte eine schallende Ohrfeige sitzen. Ulrike sagte gleichmütig: „Wenn sich die andre Backe beschwert, dass sie nichts gekriegt hat, kann sie auch was haben.“
Die Verblüffung des jungen Menschen war masslos. Er rieb die geschlagene Wange mit den Fingerspitzen und starrte Ulrike zornig und entsetzt an. Aber unter ihrem kühnen, spöttischen Blick wurde er von Sekunde zu Sekunde befangener, endlich schlug er die Augen nieder, schob die Hände in die Taschen und zuckte verlegen die Achseln.
Jetzt begann Ulrikes Kunststück. Ihn unterm Arm nehmend, fragte sie lachend, obs weh getan habe. Er nickte. „Das ist gescheit“, lachte sie. Errötend suchte er sich ihr zu entwinden, aber sie hielt