Ulrike Woytich. Jakob Wassermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jakob Wassermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711488355
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schien Ulrikes Anwesenheit vergessen zu haben. Doch entging es ihr nicht, dass er bisweilen einen forschenden Blick auf sie warf.

      Sie legte die Blätter weg. Es würde zu lange dauern, wenn sie das heute noch machen sollte, sagte sie; es seien ja ganze Prozessschriften; darauf sei sie nicht gefasst gewesen.

      „Fangen Sie heute wenigstens an, morgen ist auch ein Tag,“ antwortete Mylius unzufrieden; „oder haben Sie die Lust schon verloren? Hätte mirs denken können. Junge Damen haben was anderes im Sinn.“

      „Stimmt diesmal zufällig,“ sagte Ulrike; „aber es ist nichts Erfreuliches. Erlauben Sie, dass ich ohne Umschweife davon rede. Wollen Sie mir zuhören oder soll ich warten, bis Sie mit dem Zusammenzählen fertig sind?“

      Mylius hob den Kopf. „Bitte höflichst, Verehrteste,“ sagte er mit unangenehmem Glitzern im Blick, „was steht zu Diensten?“

      „Wüsst ich nur, wie ichs vorbringen soll,“ begann Ulrike mit einem fast salbungsvollen Ton von Bescheidenheit; „ich meine die Geschichte mit Lothar. Unterbrechen Sie mich nicht, begehren Sie nicht auf, es kann mir nicht einfallen, mich in Ihre Erziehungsmassregeln zu mischen. Es war ein leichtsinniger Streich, und der Bub hat die Lehre verdient, die ihm zuteil geworden ist. Wenn einer meiner Brüder so was angestellt hätte, der Vater hätte ihn zu Brei zerschlagen. Ein belgischer Baron Saville, den ich kannte, hat seinen zwanzigjährigen Sohn, weil er sich mit Wucherern eingelassen hatte, vier Monate lang bei Wasser und Brot in das Verliess seiner alten Burg gesperrt; erst die Polizei musste ihn befreien. In London hab ich einmal zugesehn, wie ein Metzger einem verhungerten Köter, der ihm eine frisch-abgeschnittene Hammelrippe vom Hackblock stibitzte, das Beil nachschleuderte und ihm den Schädel zerspaltete. Der Mann war in seinem Recht. Hammelrippen sind heilig, besonders in England, und müssen verteidigt werden. Jeder wehrt sich wie er kann. Hierzulande ist man wehleidiger als anderswo; so eine Mutter hierzulande schreit gleich Zetermordio, wenn man das Söhnchen unsanft beim Schopfe packt. Ich hab was übrig für die Leute à la Saville, und die Köter, die auf Diebstahl ausgehn, sind mir verhasst.“

      „Bravo, mein Fräulein, an gesundem Menschenverstand fehlt es Ihnen wahrlich nicht“, entgegnete Mylius, ohne den heimlichen Hohn in Ulrikes Worten zu spüren. „Alte Erfahrung: mit einem Menschen, der etwas von der Welt gesehn hat, lässt sich reden. Ich sage Ihnen, der Junge hat den Teufel im Leibe; was ist zu tun? Den Teufel hat man bekanntlich schon in alten Zeiten durch Prügel ausgetrieben. Man muss das Leck verstopfen, will man das Schiff vorm Sinken bewahren.“

      „Ist wahr,“ nickte Ulrike, und der bescheidene Ton wurde geradezu unterwürfig; „bei Ihnen kann man lernen. Immerhin, das Malheur war geschehen, der angerichtete Schaden musste gutgemacht werden. Der Stock, so nützliche Dienste er geleistet haben mag, ist noch kein Zahlmeister, und die Ehrenreichs brauchten ihr Geld. Frau Christine hatte das Geld nicht, also hab ich mich zur Hilfe erboten und es vorgestreckt. Seien Sie nur ganz getrost, ich werde Sie nicht darum mahnen, ich weiss, dass es Ihnen schwer fiele, einen solchen Betrag unvorbereitet aus dem Geschäft zu nehmen; ich kenne das, habe ja selbst in den engsten Verhältnissen gelebt, man ist nicht alle Tage bei Kasse, Schulden da und dort, erst schindet man sich um den Taler, dann fliegen zwanzig zum Schornstein hinaus. Das verfluchte Geld; wie edelmütig könnte der Mensch sein, wäre nicht das Geld. Zu danken haben Sie mir nicht, ich tu es aus Freundschaft, Zinsen verlang ich keine. Sie unterschreiben einen Zettel: ich schulde an Ulrike Woytich oder deren Rechtsnachfolger achtundvierzig Gulden fünfzig Kreuzer, die ich zurückerstatten werde, sobald ich in der Lage bin. Sie können auch in Raten zahlen; wie Sie wünschen, wie es Ihnen am besten passt. Nur möchte ich bitten, dass Sie über unsere Verhandlung zu Hause schweigen. Es ist Ihnen doch nicht lästig, dass ich so offen mit Ihnen rede?“

      Die Frage klang ausserordentlich treuherzig, und Ulrike griff gleich nach einem Stück Papier und dem Federhalter, um den Schuldschein auszufertigen. Sie wusste, dass es nicht dazu kommen würde. Mylius schob den Stummel vom rechten Mundwinkel in den linken und biss mit den kleinen gelben Zähnen grimmig in das zerkaute Ende. Ulrike tat, als bemerke sie es nicht. „Es ist eben schwer für einen Mann,“ sagte sie elegisch, wie zu sich selbst; „mein Gott, in heutiger Zeit. Zahlreiche Familie, Ladenmiete, Wohnungsmiete, Steuern, Gehälter, ein gewisser Schein von Wohlhabenheit und Kreditfähigkeit muss aufrechterhalten werden; ein paar hundert Gulden will man zurücklegen für Krankheitsfälle oder Extratouren; das alles aufzubringen, ist keine Kleinigkeit. Wenn man ein junger Mensch ist, na ja, da verträgt man einen Puff, da schlüpft man so mit durch, aber in gesetzten Jahren und mit solcher Last und soviel Existenzen auf dem Buckel, da ist es bitter.“ Sie seufzte. „Könnt ich Ihnen nur helfen!“ brach sie aus und schlug auf das Pult, „wär ich doch kein Frauenzimmer!“

      Mylius erhob sich. Er schritt eine Weile zwischen dem eisernen Ofen und dem Geldschrank hin und her, und Ulrike beobachtete ihn neugierig. Plötzlich blieb er stehen, wandte sich zu ihr und sagte lakonisch: „So ein einfältiges Geschwätz hab ich all meine Tage nicht gehört.“ Er kicherte.

      Ulrike machte ein erstauntes und beleidigtes Gesicht.

      „Kommen Sie mal mit mir,“ fuhr er fort und winkte ihr mit dem Finger; „ich will Ihnen mal was zeigen.“ Er ging voran und führte sie quer durch das vordere Gewölbe, in dem die Lichter brannten, in einen finstern Raum, der seitlich davon lag. Er zündete zwei Gasflammen an und sagte in gönnerhaftem und humoristischem Ton: „Jetzt passen Sie auf, Sie unschuldsvolle Seele. Sehen Sie den Schrank da?“ Er deutete auf ein riesiges wurmstichiges Möbelstück, das schwarz neben der Tür aufragte.

      „Ja; ein alter Kasten, gewiss,“ antwortete Ulrike harmlos; „auf dem Trödelmarkt gibts viele von der Art. Was ists mit ihm?“

      Mylius lachte. „Es ist ein Augsburger Schrank aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, Herzchen. Ich habe ihn auf einer Auktion in Stuttgart um achtzehntausend Mark erstanden. Er ist mehr als das doppelte wert. Die geschnitzten Engel sind allein eine Kostbarkeit.“

      „Achtzehntausend Mark?“ rief Ulrike mit dem Ausdruck vollkommensten Unglaubens; „was soll denn an dem verräucherten Brettergestell achtzehntausend Mark kosten? Mir können Sie leicht einen Bären aufbinden. Um das Geld kann man ja das ganze Zeug, das da herumsteht, beim Juden erhandeln.“

      Mylius lachte bloss. Er geriet nun in eine wunderliche Geschäftigkeit. Er schleppte einen Stuhl mit geschnitztem Wappen herbei und sagte, der sei aus dem Palazzo Strozzi in Florenz und für Sammler eine begehrenswerte Rarität. Wenn sie ihm fünftausend Gulden dafür biete, sei er ihm noch nicht feil. Er führte sie zu einem Reitsattel, der eine verschossene Samtdecke und Verzierungen aus Elfenbein hatte und aus der Zeit der Maurenherrschaft in Granada stammte; dafür habe er siebentausend Gulden auf den Tisch gelegt. Er zeigte ihr eine Bronzefigur von Riccio, Kopf des schlangenhaarigen Neides, und meinte, wer die besitze, könne sich ins Fäustchen lachen; er wies ihr Medaillen von Pisanello und Miniaturen von Füger und Isabey und sagte, die repräsentierten, wie sie sie da sehe, ein ganz stattliches bürgerliches Vermögen. Während sie noch in Betrachtung stand, kam er mit einem Becher, bei dessen Anblick sie stutzte, denn er war aus purem Gold und Mylius sagte, es sei ein Gefäss von Jamnitzer, einem berühmten Meister der deutschen Renaissance, und sei nicht für fünfzigtausend Gulden zu haben. Dann zog er sie am Ärmel zu einer Vitrine; in dieser befand sich etwas Merkwürdiges, ein winziges Bett mit entzückend geschnitzten Elfenbeinengeln und einem Baldachin, von dem ihr Mylius mitteilte, er sei aus echtem Genueser Samt, einem der seltensten Stoffe der Welt; das Ganze sei das Puppenbett einer burgundischen Prinzessin aus der Zeit Karls des Kühnen, ein Museumsstück von unermesslichem Wert, das er durch Zufall an sich gebracht.

      Ulrikes Augen bekamen einen gierigen Glanz, den sie zu verbergen bestrebt war. Allmählich war ihr die Lachlust vergangen. Das Puppenbett der burgundischen Prinzessin gefiel ihr. Sie konnte den Blick nicht losreissen. Sie prägte sich die Formen und Figuren ein. Es erwachte ein neuer Instinkt in ihrer Brust, ein neues, aus Aberglauben, Verlangen, Scheu und Wertahnung gemischtes Gefühl für die schmückenden Dinge, die leblosen, mit Vergangenheit beladenen, an Vergangenheit gebundenen Dinge, von denen ein jedes einzig in seiner Art war, jedes den Wunsch der Wissenden ausmachte, jedes ein Stück Reichtum in sich trug und infolgedessen Schutz und Sicherheit verschaffte gegen die Not und gegen die Gewöhnlichkeit. Das Puppenbett der burgundischen