Allgemein zielt Wortschatzarbeit demnach nicht auf das Erlernen einzelner Wörter, sondern auf den Erwerb einer allgemeineren Kompetenz, mit Wörtern und semantischen Fragen umzugehen und ein Sprachbewusstsein zu entwickeln und dabei auch die kognitiven Fähigkeiten zu erweitern.
Es wurde bisher einerseits die didaktische Relevanz von (semantikorientierter) Wortschatzarbeit, andererseits aber auch der Bedarf an einer solchen gezeigt, da diese bislang weitgehend fehlt, Wortschatzdefizite der Lerner eine solche aber als dringlich erscheinen lassen. Um es mit Plewnia (2006:13) zu sagen: Zum einen nimmt Wortschatzarbeit keinen sehr breiten Raum im Deutschunterricht ein; zum Zweiten wird dieser wenige Raum nur in relativ unspezifischer Weise gefüllt und zum Dritten dominiert an Stellen, an denen Wortschatz thematisiert wird, eine relativ konservative Betrachtungs- und Beschreibungsweise. Es liegt aber auf der Hand, dass die Förderung des Wortschatzerwerbs als eine zentrale Aufgabe des Deutschunterrichts verstanden werden sollte (Ulrich 2016b: 39). Im weiteren Verlaufe dieses Bandes werden daher sowohl Ziele als auch Konzepte einer modernen, semantikorientierten Wortschatzarbeit aufgezeigt.
An dieser Stelle lässt sich als Konsequenz des bisher Gesagten aus didaktischer Sicht aber schon zusammenfassen, dass semantikorientierte Wortschatzförderung nicht auf die Primarstufe begrenzt, sondern auf alle Schulstufen ausgeweitet werden sollte. Des Weiteren sollte Wortschatzförderung nicht auf den Deutschunterricht beschränkt bleiben, sondern, gerade, wo es um bildungs- und fachsprachlichen Wortschatz geht, auf den Fachunterricht ausgeweitet werden, da Wortschatzerwerb und fachliches Lernen und Wissen miteinander einhergehen (Steinhoff 2013: 14f.). Diesen Zusammenhang von Deutsch- und Fachunterricht sowie Sprachreflexion und Kommunikationsförderung verdeutlicht folgende Abbildung:
Kommunikationsförderung und Sprachreflexion im Sprach- und Sachunterricht (Roelcke 2013: 337)
Am stärksten wird die semantische Seite des Wortschatzes dabei in einem reflexiven (Deutsch-)Unterricht zum Tragen kommen, der nicht allein Wortschatzarbeit als Förderung anderer sprachlicher Kompetenzen betreibt, sondern Einsichten in semantische Tiefenstrukturen, Polysemie und Ambiguitäten anstrebt. Traditionelle Themen, die hier im Deutschunterricht in Frage kommen, wären etwa:
Semantik in Definitionen und terminologischen System, z.B. bei Fachterminologien der Unterrichtsfächer
Semantik bei Anglizismen und anderen Fremdwörtern (in Relation etwa zu nahe stehenden deutschen Begriffen)
wörtliche vs. übertragene Bedeutung von Redensarten und Sprichwörtern; bei Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) oder Deutsch als Fremdsprache (DaF) generell die Semantik von Phraseologismen usw.
Semantik und (Schein-)Synonyme – in Verbindung mit Schreibunterricht (Stilistik, Angemessenheit)
kritische Semantik/Semantik und Sprachkritik/Sprachmanipulation (bspw. zu Euphemismen, Unwörtern des Jahres, Metaphorik in politischen Reden)
…
Über den schulischen Unterricht hinaus sollte Wortschatzarbeit zudem – nicht nur für mehrsprachige Kinder, sondern auch für einsprachige – bereits vorschulisch im Kindergarten ansetzen, da sich die „bedeutendsten Entwicklungen im Bereich des [mentalen] Lexikons [im] Alter von ungefähr drei bis acht Jahren“ ereignen (Moser/Berweger/Stamm 2005: 61).
Übung 125a
Literatur
2 Linguistische Grundlagen
2.1 Theorien und Modelle
Das Wort Bedeutung geht nach dem bedeutungsgeschichtlichen Wörterbuch von Hermann Paul (102002: 141f.) zurück auf das mittelhochdeutsche Wort bediutunge mit der Bedeutung ‚Auslegung, Interpretation‘; in dem etymologischen Wörterbuch von Friedrich Kluge (231995) findet es keine Berücksichtigung. Es trägt in der deutschen Standardsprache der Gegenwart laut des „Duden – Deutsches Universalwörterbuch“ (42001: 242) selbst zwei Bedeutungen: zum einen „Sinn, der in Handlungen, Gegebenheiten, Dingen, Erscheinungen liegt“ bzw. „begrifflicher Inhalt eines Zeichens; Beziehung zwischen Wortkörper u. begrifflichem Inhalt“ und zum anderen „Gewicht, Tragweite, Belang“ bzw. „Geltung, Ansehen, Wert“.
Neben diesen allgemeinsprachlichen Bedeutungen haben sich im Laufe der Geschichte von Philosophie, Semiotik und Linguistik (Auroux et al. 2008; Gardt 1999; Leiss 2009; Nöth 22000; 2017; Posselt/Flatscher 2016; Ricken 1990) zahlreiche weitere fachsprachliche Bedeutungen herausgebildet. Dabei lassen sich im Wesentlichen zwei Positionen unterscheiden: Die eine geht davon aus, dass Bedeutung eine eigenständige Einheit darstellt, die unmittelbar als Begriff oder Konzept, als Bewusstseinsgegenstand oder als kognitive bzw. mentale Entität zu fassen ist. Im Rahmen der anderen Position gilt dieser Status einer eigenständigen Einheit als nicht gesichert, sodass Bedeutung hier lediglich mittelbar als Gebrauchsweise eines Zeichens oder als kommunikative Funktion verstanden wird; in einem extremen Ansatz wird der wissenschaftliche Gebrauch von Bedeutung dann aufgrund von Undefinierbarkeit ganz zurückgewiesen. Unabhängig von diesen zwei bzw. drei grundsätzlichen Positionen werden innerhalb der philosophischen und linguistischen Semantik einige grundsätzliche Bestimmungen und Unterscheidungen vorgenommen.
2.1.1 Bedeutung als eigenständige Einheit
Die philosophische Auffassung, dass Bedeutungen letztlich eigenständige Einheiten (kognitive oder mentale Entitäten) darstellen, geht mindestens zurück bis auf die klassische Antike und wird beispielsweise in Platons berühmtem Dialog „Kratylos“ diskutiert und hier bereits mit der Auffassung von Bedeutung als Gebrauch von Zeichen konfrontiert. In der neuzeitlichen Philosophie findet sie sich etwa wieder bei John Locke (1690), Immanuel Kant (21787) oder dem Begründer der (analytischen) Sprachphilosophie Gottlob Frege (vgl. Frege 51980) sowie bei Bertrand Russell und dem jüngeren Ludwig Wittgenstein (1921/82).
Innerhalb der modernen Sprachwissenschaft findet sich eine entsprechende Vorstellung von Bedeutung bei deren Begründer, dem Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure (1916). De Saussure unterscheidet zwei Komponenten eines (sprachlichen) Zeichens (vgl. Abb. 211a):
das Bezeichnende (der Ausdruck, signifiant) und
das Bezeichnete (die Bedeutung, signifié).
Dabei entsprechen das Bezeichnende der (abstrakten) Ausdrucksseite des Zeichens (von de Saussure auch als image acoustique bezeichnet) und das Bezeichnete dessen (ebenfalls abstrakter) Inhaltsseite, der Bedeutung (auch: concept). Die Zuordnung zwischen Ausdruck und Bedeutung ist dabei durch Arbitrarität und Konventionalität gekennzeichnet: Von lautmalerischen Ausdrücken (sog. Onomatopoetika) wie Kuckuck oder Wauwau einmal abgesehen, bestehe zwischen der Ausdrucks- und der Bedeutungsseite eines Zeichens weder eine Ähnlichkeitsbeziehung noch ein Kausalzusammenhang; ihre kommunikative Verwendbarkeit wird alleine durch eine Übereinkunft innerhalb einer Sprachgemeinschaft gewährleistet.
Zeichenmodell von de Saussure (1916: 231)
De Saussure siedelt das sprachliche Zeichen auf der Ebene des Sprachsystems (langue) an: Durch den engen Zusammenhang, der zwischen dem Ausdruck und der Bedeutung bestehe (de Saussure vergleicht diesen im Rahmen seiner