Die spirituelle Leere des westlichen Materialismus
Der westliche Materialismus mit seinem Machbarkeitswahn, mit seiner Vergötterung von Wohlstand, mit seiner Ökonomisierung und Sexualisierung weiter Lebensbereiche hat eine spirituelle Verarmung erzeugt, die für viele Menschen außerhalb des abendländischen Kulturkreises weder nachvollziehbar noch erstrebenswert ist. Ein durchrationalisiertes und auf Effektivität getrimmtes Leben schafft eine geistliche Wüste. Der Mensch verliert die religiöse Dimension und findet sich in einer entzauberten Welt wieder, in der er nicht mehr weiß, wer er ist. Das reduktionistische Menschenbild des westlichen Materialismus, in welchem der Mensch eine hochevolutionierte seelenlose Biomaschine ist, die in totaler Diesseitsfixierung und religiöser Sterilität verarmt, befindet sich diametral im Gegensatz zum spirituellen Lebensgefühl eines Afrikaners oder Südamerikaners. Diese erstreben zwar die Modernisierung mit allen ihren guten Früchten, aber ohne die ideologischen Implikate. Überall in der Welt außerhalb des westlichen Kulturkreises gehört das Übernatürliche so fest zum Alltag der Menschen, dass sie Mühe haben, uns Westler samt unserem kritischen Rationalismus zu verstehen. Sie denken, wir atheistisierenden Skeptiker sind spirituell behindert. Sie halten Atheisten sogar für moralisch und intellektuell minderwertig. Eine erfolgreiche Säkularisierung setzt die religionsdistanzierte, von Skeptizismus und Absolutsetzung der menschlichen Ratio geprägte Mentalität des Westens voraus. Da diese aus globaler Perspektive gesehen eher eine Ausnahmeerscheinung ist, kann sich Säkularisierung weltweit nicht durchsetzen. Im Gegenteil! Sie bleibt eine Sonderform, Religion aber boomt.
Religion als Motor sozialer Transformationen
Dreimal war ich für mehrere Wochen in Bangalore, Indien, um das Wachstum der Mount Zion Pentecostal Church (KMPC) zu studieren. Die Pfingstkirche hat unter Leitung von Bischof Dr. Francis Jackson in den letzten zwanzig Jahren über dreihundert neue Gemeinden gegründet. Die meisten davon begannen als Kirche der Ärmsten unter den Dalits, den sogenannten kastenlosen »Unberührbaren« in den Slums der Vorstädte. Francis Jackson, der selber einen Dalit-Hintergrund hat und in seiner Jugend Marxist war, kam bei einer Evangelisation, die er eigentlich mit einer jugendlichen Schlägertruppe stören wollte, zum christlichen Glauben. Nach Abschluss des Studiums gründete er in Bangalore eine kleine Gemeinde, die sehr schnell wuchs und sich multiplizierte. Mich interessierten als deutschen Theologen und Gemeindegründer die Gründe für das unglaubliche Wachstum dieser Bewegung. Die Theologie dieser sich multiplizierenden Kirche ist denkbar simpel. Es fällt aber auf, welche große Rolle soziale Faktoren für das Gemeindewachstum spielen. Menschen, die sich dem christlichen Glauben zuwenden, schaffen in den meisten Fällen den langsamen Aufstieg aus der untersten Gesellschaftsschicht in die Mittelschicht. Fast alle Gemeinden, die von der Mount Zion Pentecostal Church gegründet wurden, starteten in den Slums von Bangalore unter den Ärmsten der Armen, den Dalits.
Überhaupt spielen soziale Gründe für das Wachstum der evangelikal-charismatisch geprägten Kirchen in der sogenannten Dritten Welt eine entscheidende Rolle:
Erstens zieht die Hinwendung zum christlichen Glauben meistens einen Mentalitätswandel nach sich. Wer mit fernöstlichen Kulturen tiefer in Berührung kommt, dem fällt auf, dass Asiaten eher dazu tendieren, sich mit ihrem Schicksal abzufinden, das sie als von höheren Mächten gegeben akzeptieren. In Indien wird das durch die hinduistische Lehre vom Karma verstärkt, nach der die Lebensbedingungen eines Menschen das Resultat seines vorangegangenen Lebens sind.23 Der christliche Glaube dagegen betont die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung des Menschen: »Mit Gottes Hilfe kann ich meine Lebensumstände verändern, und mit Disziplin und Fleiß etwas erreichen im Leben«. Im Hinduismus ist man schicksalshaft auf seine Vergangenheit festgenagelt, die sich auswirkt bis in das nächste Leben. Die Kernbotschaft des christlichen Glaubens aber lautet, dass Gott durch die Selbsthingabe Jesu am Kreuz Sünde vergibt und einen Neuanfang schenkt. Der Mensch wird von seinem belastenden Schicksal befreit und erfährt die enorm bevollmächtigende Chance, ein besseres Leben zu führen. Das setzt einen sozialen Motivationsschub frei.
Zweitens leben die meisten Pfingstkirchen als Gemeinschaften, in denen Werte wie Verbindlichkeit, Treue, maßvoller Genuss und ein hohes Arbeitsethos prämiert werden, während Alkohol, Drogen, billiges Vergnügen und außerehelicher Sex verpönt sind. Das setzt erhebliche Ressourcen frei, die nun in den sozialen Aufstieg, in die Familie, in Bildung, Arbeit und Kirchgemeinde investiert werden. Eltern, die oft kaum lesen und schreiben können, kommen nun in die wirtschaftliche Lage, ihre Kinder auf eine gute Schule schicken zu können.
Drittens sind Pfingstgemeinden interessante und wichtige Orte für Menschen, die gute Jobs suchen. Man trifft dort Leute, die verlässlich in Handel, Industrie oder im Dienstleistungssektor arbeiten. Gemeinden bilden Kommunikationsstrukturen, durch die man den Anschluss zu einem erfolgreichen Arbeitsleben bekommen kann, wenn zum Beispiel ein Gemeindemitglied seinem Chef einen Mitchristen als zuverlässigen und motivierten Mitarbeiter empfiehlt.
In Lateinamerika arbeiten die Pfingstgemeinden besonders erfolgreich in den suburbanen Randgebieten der Millionenmetropolen, in den dichtbesiedelten und von Armut und Kriminalität beherrschten Favelas und Slums. Hier sammeln sich jene, die vor der Chancenlosigkeit der ländlichen Gebiete in die Städte geflohen sind auf der Suche nach einer Zukunft. Die Pfingstgemeinden mit ihrem flexiblen Ansatz benötigen keine Kirchgebäude. Ihnen genügen alte Kinos, Fabrikhallen, Kneipen, Schulen, Turnhallen. Dort versammeln sie sich lautstark. Mit vielfältigen missionarischen und sozialen Projekten sind diese Gemeinden an den Orten präsent, an denen die Armen wohnen. Der Erfolg dieser Gemeinden wird vor allem auch in dem sozialen Aufstieg der Menschen in den Suburbs sichtbar. Die Kriminalitätsrate sinkt. Es entstehen saubere Wohnsiedlungen mit kleinen Geschäften. Nicht weit davon siedeln sich Gewerbegebiete an. Das Geist-Christentum der Pfingstler ist eine attraktive Alternative zur lateinamerikanischen Macho-Kultur des Prahlens, Drogenkonsums, Sexismus, Glückspiels und der Gewalt. Menschen, die durch die Pfingstkirchen missioniert wurden, werden nun dazu angehalten und gedrängt, auf Alkohol zu verzichten, Bordellbesuche einzustellen, der Gewalt abzuschwören und sich stattdessen um ihre Familien zu kümmern, ihren Frauen treu zu sein und an ihrem beruflichen Erfolg zu arbeiten. Die katholische Kirche als unflexible hierarchische Großinstituion war dagegen kaum in der Lage, auf die rasanten Urbanisierungsprozesse zu reagieren und eine pastorale Versorgung in den Vorstädten aufzubauen. Meistens scheiterte das schon am Priestermangel. Pfingstkirchen haben keine hierarchische Leitungsstruktur. Pastor kann im Grunde jeder werden, ob Mann oder Frau, bei dem die Geistesgabe der Leitung und Predigt sichtbar wird. Er braucht oft nicht einmal eine richtige Ausbildung. Eine Kurzbibelschule ist häufig schon genug.24
Für europäischen Geschmack ist das charismatischpfingstlerische Christentum mit seiner Vernachlässigung von Lehre, Struktur und Intellektualität und seiner Betonung von Ekstase, Überschwang und Emotionalität zumeist irritierend, wenn nicht abstoßend. »Hot religion« ist uns suspekt. Aber offensichtlich passt diese Form christlich-religiöser Ergriffenheit zu vielen Menschen außerhalb des westlichen Kulturkreises und kommt der Sehnsucht nach kollektiver emotionaler Erfahrung, nach Gemeinschaft und festen Normen entgegen. Und sie ist die erfolgreichste christliche Bewegung aller Zeiten.
Globalisierung
Vor einigen Tagen: Ich sitze im Bus einer Berliner Stadtlinie. Neben mich setzt sich eine afrikanisch aussehende Frau. Ich schaue sie kurz an. Sie schenkt mir ein Lächeln, spricht mich englisch an, kramt in ihrer Handtasche und überreicht mir einen Flyer, ein deutschsprachiges Traktat mit einer Einladung zum Gottesdienst in eine afrikanische Gemeinde in Berlin: »You realy must come. It’s important for you«, sagt sie charmant.
Es gibt vielleicht hundert solcher Gemeinden in der Hauptstadt. Sie treffen