Marie hatte sie ermahnt, am Bahnhof keine Fragen zu stellen.
»Die Leute werden neugierig sein«, hatte sie gesagt. »Gehen Sie einfach geradeaus aufs Meer zu, ungefähr eine Meile, und dann biegen Sie nach links ab.«
Eine Meile! Das erschien Fleur jetzt eine unüberwindbare Entfernung. Sie starrte auf die weiße, staubige Straße, auf der sich mehrere Fahrgäste, die zusammen mit ihr ausgestiegen waren, schon entfernten.
Wenn ich nur schlafen könnte, dachte sie verzweifelt.
Sie hatte einen Teil der vergangenen Nacht sitzend auf einer harten Bank an einem Bahnsteig verbracht. Der Wartesaal war auf deutschen Befehl hin geschlossen und abgesperrt worden. Mehrmals waren im Laufe der Nacht Beamte vorbeigekommen, hatten die Gruppe frierender, aber geduldig wartender Fahrgäste verächtlich gemustert.
Unzählige Male hatte sie ihre Papiere vorzeigen und immer wieder dieselben Erklärungen abgeben müssen. Dabei hatte ihr Herz oft ängstlich geklopft, weil sie befürchtete, zu große Aufmerksamkeit zu erregen. Aber niemand schöpfte Verdacht - ihre Ausweise waren in Ordnung, die Unterschrift des betrunkenen Offiziers machte den Kontrolleuren Eindruck. Die abfälligen Bemerkungen über eine Frau, die in solchen Zeiten eine so weite Reise unternahm, erschreckten Fleur nicht.
Und jetzt endlich, so unglaublich es schien, hatte sie ihr Ziel erreicht. Aber sie war zu müde, um erleichtert zu sein. Die Straße dehnte sich vor ihr. Nun, es half nichts - sie mußte losgehen. Sie schleppte sich vorwärts, ihr Gepäck hinderte sie am Weiterkommen, als würde es Bleiklumpen anstelle der Kleider enthalten. Es war heiß, und sie fühlte, wie sich der Schweiß unter dem steifen Band ihres Hutes sammelte und langsam über ihre Stirn lief.
Vielleicht wäscht er ein wenig von dem Staub fort, überlegte sie gleichgültig. Die Wagen, in denen sie gesessen hatte, waren schmutzig gewesen, die Böden nicht nur mit Sand bedeckt, sondern auch mit verdorbenen Lebensmitteln, mit Papier und Asche.
Sie ging weiter. Jetzt konnte sie das Salz in der Luft riechen. Eine frische Brise blies vom Meer landeinwärts, und ganz plötzlich überkam sie die Sehnsucht nach England - nach ihrem Zuhause.
Weiter ... weiter ... bei jedem Schritt wirbelte sie Staub auf. Weiter ... weiter ... hatte diese Straße denn niemals ein Ende?
Mehr als einmal blieb sie stehen, setzte ihr Gepäck ab und war versucht, es einfach stehen zu lassen, weiterzugehen und es später abzuholen. Sie hätte es wohl auch getan, wenn sie nicht befürchtet hätte, jemand könnte es öffnen und von seinem Inhalt überrascht sein.
Die Straße wand sich dahin, die Felder zu beiden Seiten wirkten öde und verlassen. Fleur fragte sich, wie weit sie noch gehen mußte, bis sie endlich den Bauernhof erreichte.
»Sie können ihn nicht übersehen«, hatte Marie erklärt, und doch zweifelte Fleur jetzt daran, ob sie Maries Anweisungen wohl richtig verstanden hatte, ob sie wirklich in die richtige Richtung ging.
Ganz plötzlich sah sie den Hof. Nach einer Kurve, hinter einer Ansammlung von Pappeln lag es da - ein kleines Gebäude, dessen einst weiße Wände jetzt rissig und verwittert waren. Ein Torflügel hing schief in den Angeln, der Hof war leer bis auf eine Katze, die auf einer Holzbank schlief.
Fleur stellte ihr Gepäck ab und starrte auf das Haus. Die unheimliche Stille ließ sie fürchten, daß das Haus verlassen war.
Energisch hob sie ihre Tasche wieder auf und ging in Gedanken noch einmal die Worte durch, die sie sagen wollte. Sie überquerte den Hof und hörte ganz plötzlich, weit hinten im Haus, einen Hund bellen, ein scharfes, fast ängstliches Bellen. In diesem Moment wurde ihr klar, daß sie beobachtet wurde: Jemand blickte, halb versteckt, aus einem Fenster und verschwand dann wieder. Sie vernahm eine Stimme, die von zu weit herkam, als daß sie die Worte hätte verstehen können, aber es war immerhin eine menschliche Stimme! Dann herrschte wieder Stille.
Fleur erreichte die Veranda, wartete einen Moment, klopfte zaghaft an die Tür. Sie klopfte erneut, diesmal fester. Dann wartete sie ... lauschte.
Nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien, hörte sie Schritte. Sie näherten sich der Tür... blieben stehen. Jemand flüsterte, ein Schlüssel wurde im Schloß gedreht, ein Riegel weggeschoben.
Die Tür öffnete sich, und vor ihr stand ein Mann. Fleur sah ihn an und wußte sofort, daß dies Jacques sein mußte, Maries Bruder. Sie sahen sich sehr ähnlich; sein Gesicht war genauso geschnitten, und er hatte dieselben blauen Augen.
Er war kein junger Mann mehr. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht, und er hatte den ruhigen, melancholischen Ausdruck, den man so häufig bei Menschen findet, die der Erde verbunden sind und gelernt haben, die Naturereignisse ohne Murren hinzunehmen.
»Was wollen Sie?« Jacques Bouvais sprach langsam, mit tiefer, rauher Stimme, und für Fleur lag etwas Unfreundliches in seiner Haltung.
»Ich komme von Ihrer Schwester Marie.«
Sie sah ihn bei diesen Worten an und erwartete eine sofortige Reaktion. Aber wenn er überrascht war, so ließ er es sich nicht anmerken. Er zeigte weiterhin denselben Ausdruck geduldiger Resignation.
»Und?«
Fleur war enttäuscht.
»Darf ich hereinkommen?« fragte sie. »Es gibt so viel zu erklären.«
Sie bekam plötzlich Angst. Wenn Marie sich nun geirrt hatte, wenn ihr Bruder auch zu denen gehörte, die mit den Deutschen kollaborierten? Vielleicht saß sie schon in der Falle - war die lange beschwerliche Reise eine Fahrt in ihr Verderben?
»Ich finde, Sie sollten mir zuerst sagen, was Sie von uns wollen«, beharrte Jacques Bouvais, und plötzlich fühlte Fleur, daß ihre Kräfte schwanden. Sie war so müde - zu erschöpft, um lange Erklärungen abgeben zu können. Außerdem hatte sie Angst... Die grelle Sonne schmerzte in ihren Augen, und sie empfand plötzlich Mißtrauen. Stand nicht offene Feindschaft im Gesicht von Jacques Bouvais?
Fleur hatte ihren Korb abgestellt, als sie die Tür erreicht hatte. In der anderen Hand hielt sie noch immer die Tasche, die immer schwerer und schwerer wurde. Sie ließ sie fallen. Für einen Moment schwankte Fleur, und ihr wurde schwarz vor Augen ...
»Es geht mir gut«, hörte sie sich selbst murmeln, als müßte sie jemand anderen davon überzeugen. »Wenn ich mich nur irgendwo setzen könnte.«
Noch als sie diese Worte sprach, spürte sie, wie ihr die Sinne schwanden.
Ich darf nicht vergessen, Französisch zu sprechen, dachte sie.
Sie fühlte Arme um ihre Schulter, Hände, die sie stützten, und dann war der Sonnenschein verschwunden, und sie saß auf einem Stuhl in der schattigen Kühle des Hauses.
»Trinken Sie das«, sagte eine Frauenstimme.
Ein Glas wurde an ihre Lippen gehalten, und kühles, fast eiskaltes Wasser lief ihr langsam die Kehle hinab. Ihr Blick wurde klarer und die Benommenheit verging.
»Es tut mir leid«, murmelte sie. »Das muß die Hitze gewesen sein.«
»Sie kommen von Marie?« fragte eine sanfte Stimme, und als sie aufsah, blickte sie in das freundliche Gesicht einer älteren Frau.
»Es tut mir leid«, wiederholte Fleur, »mir geht es jetzt wieder gut. Ja, ich komme von Marie. Sie hat mich zu Ihnen geschickt. Sie sagte, Sie würden mir helfen.«
Sie bemerkte den Blick, den der Mann, der schweigend auf der anderen Seite des Zimmers stand, und die Frau an ihrer Seite miteinander tauschten. Sie konnte ihn nicht deuten, verstand nicht, was er zu sagen hatte.
Soll ich ihnen die Wahrheit sagen? fragte sich Fleur. Kann ich es wagen?
Sie schaute niedergeschlagen von einem zum anderen und erkannte, daß sie keine Wahl hatte.
Schließlich begann sie in einem Ton, der ihre Verzweiflung verriet: »Marie sagte, ich könnte Ihnen vertrauen und wäre hier sicher.«
»Woher sollen wir wissen, daß Sie die