Weit weg in der Nacht waren sich beschleunigende Motoren zu hören.
Mit Schwung setzte sie sich auf. Sie hatte geträumt! Wie lange hatte sie geschlafen? Der Wasserhahn! Sie sprang aus dem Bett und rannte ins Badezimmer. Die Wanne war leer. Dann schlich sie ins Wohnzimmer und beugte sich über den Obdachlosen. Das Blut auf der Stirn war jetzt verschwunden. Er lag nun ganz unter der Decke und schlief mit friedlichem Ausdruck im Gesicht.
Mit einem Mal fiel ihr der Traum wieder ein und berührte seinen Mund mit ihren Fingerspitzen. Ihr Gesicht wurde heiß. Sie trat einen Schritt zurück, weg von ihm.
„Wir haben einen Deal“, sagte sie laut zu dem schlafenden Mann. „Ich werde diese Bilder bekommen. Morgen werden wir sie machen. Mit oder ohne Blut!“
Das Geräusch der ins Schloss fallenden Tür weckte sie. Schlaftrunken taumelte sie ins Wohnzimmer, wo sie die Decken fein säuberlich zusammenlegt auf dem Sofa vorfand. Sie hastete zum Wäschetrockner und riss die Tür auf. Kein Mantel. Sie knallte die Tür wieder zu und stürmte zur Wohnungstür, öffnete sie schwungvoll und spähte ins Treppenhaus.
„Verdammte Scheiße!“, brüllte sie. „Wir hatten einen Deal!!“
Es zog und zwickte und stach in ihr, sie wankte zurück in die Wohnung und hockte sich mit um den Bauch gewickelten Armen, dem Rücken zur Wand, nieder. Dann kam sie wieder auf die Beine, zog sich eine Jacke und ein Paar Stiefel über und sprintete ins Atelier, um ihre Kamera zu holen. Es sollte etwas passieren. Sie wollte raus aus dem Haus – weg von ihrer Ohnmacht, ihrem Zorn.
Doch dann stoppte sie abrupt. Das Licht summte nur so. Die Lampen waren an. Mit einem Mal verlangsamte sich alles, sie konnte fühlen, wie sich ihre Augenbrauen anhoben und sich ihre Pupillen vergrößerten. Der Stuhl, den sie in die Mitte gestellt hatte, war weg. Auf dem Boden lag das KunstmagaZin mit dem Bild vom Mädchen mit dem Perlenohrring und die Lampen und der Regenschirm standen an anderen Stellen, als da, wo sie sie hingestellt hatte, leuchteten in andere Richtungen, als die, auf die sie sie eingestellt hatte.
Auch die Kamera war eingeschaltet. Als sie sie ausschalten wollte, sah sie, dass neue Bilder gemacht worden waren. Sie nahm die Kamera aus dem Stativ, fiel langsam auf die Knie, drückte an dem Gerät und japste. Der Mann hatte drei Bilder von sich selbst aufgenommen.
Das erste zeigte ihn nackt – seine Vorderseite. Er stand mit einer um seine Erektion geformten Hand da und sah sie mit Augen an, die wieder ergraut waren, aber nicht weniger lüstern aussahen.
Auf dem zweiten Bild war er auch nackt, diesmal aber mit schlaffem Penis. Er hatte offensichtlich versucht, das Licht so stark wie möglich aufzudrehen – und das war ihm auch gelungen. Sein elfenbeinweißer Körper strahlte im Licht und wurde ein Teil davon. Es war beinahe so, als wäre er nicht da.
Auf dem dritten war er vollständig angezogen. Er hatte exakt dieselbe Einstellung verwendet, die sie sich vorgestellt hatte. Das Gesicht, die Schulterpartie mit dem zerlumpten Mantel, doch das Bild zeigte einen anderen Mann, als den, den sie hätte zeigen wollen. Sie konnte sehen, dass er aufrecht dagestanden haben musste, gerade und selbstbewusst, mit zur Seite gedrehtem Kopf, wie das Mädchen mit dem Perlenohrring, nur von der anderen Seite und mit über die Schulter geschwungenem Haar, sodass sie der Ohrring in seinem rechten Ohr anleuchtete. Seine Lippen waren leicht geöffnet.
Sie warf einen Blick auf das Aufnahmedatum. Der Obdachlose hatte über eine Stunde für die drei Bilder gebraucht.
Lange saß sie noch da und betrachtete die Aufnahmen. Sie hatte ihn um ein Gesicht gebeten. Er hatte ihr einen ganzen Menschen gegeben.
Er hatte sie besiegt, er war der Aussteller. Das sollte er wissen.
Als sie auf die Beine kam, bemerkte sie, dass da kein Flüstern mehr in ihren Ohren war, keine Scherben, kein Ziehen, kein Zerren, kein Zwicken. Die Begierde war verschwunden.
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