»Bitte keine Predigten.« Janet schloss die Augen.
Suzie setzte sich neben sie. Sie legte ihr die Hand aufs Knie und senkte die Stimme ins Vertrauliche. »Ich möchte als Freundin mit dir reden. Du liegst mir wirklich am Herzen, weißt du?« Sie zögerte, und ihre Stimme wurde noch leiser. »Wirst du mir zuhören?«
Janet nickte müde. Zuhören wäre leichter als Streiten.
»Du weißt«, sagte Suzie, »heute ist ein ganz besonderer Tag. Es ist der Geburtstag unseres Erlösers, der uns die Macht der Liebe gelehrt hat. Gott gab uns unseren Leib, damit wir sein Geschenk der fleischlichen Ekstase erleben, Janet. Er schuf den Teufel, uns mit bösen Gedanken von Verdrängung und Schuld und Angst von diesem Pfad der Gnade fortzulocken. Der Teufel schuf schreckliche Krankheiten, damit die Menschen einander mit Abscheu anstatt mit Liebe begegnen, doch Gott gab uns die Antibiotika und die Impfstoffe, um all diese Krankheiten zu heilen. Und so sind wir wieder frei und können unser ganzes Potenzial der Erfüllung erforschen. Dies ist Gottes neues goldenes Zeitalter, Janet! Du verschließt dich all diesem Glück, siehst du das denn nicht?«
Janet machte die Augen auf. »Ich weiß ja, du meinst es gut. Aber das ist alles wirklich sehr ermüdend.«
Suzie warf verzweifelt die Hände hoch. »Was stimmt nicht mit dir? Ich meine, wieso bist du denn überhaupt ins LoveLand gekommen?«
»Wegen des Geldes«, sagte Janet finster.
»Das glaub’ ich nicht.« Suzie schüttelte den Kopf. »Du bist ein reiner und guter Mensch, Janet. Du bist nicht allein von Reichtümern verlockt. Hier ist irgendetwas andres im Spiel. Wenn’s geheim bleiben soll, gut, das ist dein Recht. Aber ich glaub’ wirklich, du solltest es mir anvertrauen. Um unsrer Freundschaft willen.«
In Janet regten sich sonderbar gemischte Gefühle. Wut und noch etwas – Schuldgefühl, wurde ihr zu ihrer Überraschung bewusst. Wenn die Behörde sie zu einem Undercovereinsatz losschickte, hatte sie für gewöhnlich mit zwielichtigen Gestalten zu tun, für die sie keinerlei Wertschätzung aufbrachte. Denen gegenüber eine Coverlegende aufrechtzuerhalten war überhaupt kein Problem. Aber Suzie Sunshine alias Smith in ihrer Naivität war der anständigste Mensch, der ihr je begegnet war. Sie anzulügen wurde tatsächlich zur Bürde.
Suzie wartete immer noch. Offensichtlich war Janet kurz davor, ihr etwas zu erzählen. »In Ordnung, Suzie. Lass mich erzählen, was wirklich mein größter Wunsch ist.« Janet hielt inne und holte tief Atem. Wenn sie ein persönliches Geheimnis verriet, könnte das vielleicht Ersatz für das viel größere berufliche Geheimnis sein, das sie zu wahren hatte – wie zum Beispiel ihr Undercovereinsatz oder die an einer Schädelseite implantierten hundertfünfzig Gramm bioelektronisches Überwachungs-Instrumentarium.
»Erzähl ruhig weiter«, mahnte Suzie. »Ich bin ganz Ohr.«
»Du denkst wahrscheinlich, dass ich eine sehr kalte, kontrollierte Frau bin«, fing Janet an. »Das stimmt ja auch. Gleichzeitig habe ich, seit ich Teenager war, immer die gleiche heimliche, romantische Phantasie von meinem Traummann. Ich habe immer nach ihm gesucht, ihn aber nie gefunden. Er ist kein Macho. Er ist sanft, körperlich eher klein. Japanisch, stell’ ich mir vor. Sehr höflich, sehr kultiviert, formell und zurückhaltend. Er ist ein Denker, irgendeine Art Wissenschaftler. Er ist Mitte dreißig, und er hat Geld, ein Selfmademan. Gleichzeitig ist er sehr liebenswürdig und einfühlsam. Er liebt Tiere – besonders Hunde. Er ist ein Idealist, dem seine Arbeit über alles geht, und wenn er auch sonst schüchtern und bescheiden ist, ist er tapfer und kühn und bereit, jedes Risiko einzugehen, wenn er seine Ideale verteidigen muss.«
Kurze Stille trat ein. Suzie schüttelte bestürzt den Kopf. »Oje, wo willst du denn so einen Mann finden?«
Janet stand auf, plötzlich verärgert, als hätte jemand sie trickreich dazu verleitet, mehr zu sagen, als sie gewollt hatte. »Ich weiß es nicht«, sagte sie barsch. »Hier nicht, das ist mal sicher. In der Zwischenzeit lebe ich einfach mein Leben weiter. Okay?« Sie verließ das Zimmer.
10. Unterwegs mit der Queen der Freeps
Dr. Percival Abo machte den Kofferraum seines Hondas auf und holte den Aktenkoffer voller Goldstücke raus. »Komm mit, Lucky«, rief er dem Hund zu, als er sich anschickte, über den heruntergekommenen Parkplatz das Gebäude anzusteuern, das einst Sabrinis Dodge-Autohaus gewesen war.
Die Wände des Gebäudes waren mit Graffiti, Plakaten und sich allmählich auflösenden Papierfetzen bedeckt. Das schon lange zerbrochene Glas der großen Fenster war durch milchig durchscheinende Plastikfolie ersetzt, die sich im unregelmäßigen Wind bauschte oder schlaff wurde. AMTSSITZ DER NICHT-REGIERUNG DER FREE ZONE war auf ein Schild über dem Eingang gepinselt. Daneben: DIE QUEEN DER FREEPS IST DA. Das Wort »DA« auf einem Extrastück Pappe, an einem Streifen Scotch Tape hängend, sodass es sich umdrehen ließ.
Im Haus fand er eine weitläufige, nicht unterteilte Fläche vor, vollgestellt mit alten Stahlschreibtischen. Männer und Frauen in Jeans und T-Shirt telefonierten, tippten an Computerterminals und verständigten sich lauthals über größere Entfernung hinweg. Überall lagen Papiere herum, der Boden war schmutzgefleckt.
»Was woll’n Sie?«, fragte gebieterisch eine stattliche Frau, als Dr. Abo zögernd in der Tür stehen blieb.
Er beugte sich runter, um seinem Hund die Sonnenbrille abzunehmen, nahm dann die eigene ab. »Ich bin mit Dusty McCullough verabredet. Um elf, wie ich glaube, ich …«
»Haben Sie einen Codenamen?«
»Eichhörnchen«, sagte Dr. Abo und kam sich albern dabei vor.
Sie tippte etwas ins Terminal auf ihrem Schreibtisch und sah ihn dann von oben bis unten an. »Okay, die Beschreibung passt. Kommen Sie mit.« Sie stand auf und führte ihn ans andere Ende des Raums.
Dusty hatte die Füße auf dem Schreibtisch, nippte an einem Proteindrink und drückte müßig einen Handtrainer. Ein schäbig gekleidetes Paar in den Fünfzigern stand aufgeregt fuchtelnd vor ihr. »Was ich nicht verstehe«, sagte die Frau, »ist, mit welchem Recht Sie, obwohl wir schon zehn Jahre auf dem Grundstück wohnen, von uns verlangen …«
»Mrs. Hinckel, es ist nicht mehr Ihr Land«, erklärte ihr Dusty. »Das müssten Sie doch inzwischen wissen. In der Free Zone gehört das Land der Gemeinschaft, und an die Gemeinschaft zahlen Sie Miete, die für was auch immer verwendet wird, wie es die Einwohner für richtig halten.«
»Wir haben das Geld nicht«, schaltete sich der Mann ein. Er sprach mit weinerlich gequetschter Stimme, sein Gesichtsausdruck von gewohnheitsmäßigem Übelnehmen geprägt. »Wir haben es einfach nicht.«
Dusty seufzte. Sie ließ den Handtrainer fallen. »Schauen Sie. Es gibt überhaupt keine Besteuerung mehr, weder staatliche noch kommunale. Alles, was wir brauchen, sind ein paar Dollar Grundstücksmiete für unbedingt erforderliche Dienstleistungen. Wenn Sie die nicht zahlen wollen, ist das Ihr Recht. Ich kann Ihnen nichts befehlen. Wenn Sie aber die Kanalisation und die Wasserversorgung und die Schule und das Krankenhaus und die Feuerwehr nutzen, zu deren Finanzierung unsere Nachbarn beitragen, dann werde ich Ihren Nachbarn erzählen, dass Sie nicht Ihren Anteil leisten. Sie können es dann mit denen ausmachen.«
»Aber die mögen uns nicht«, quengelte der Mann. »Sie warten nur auf eine Chance …«
»Das ist jammerschade, Mr. Hinckel. Ich hab zu arbeiten.« Sie wandte sich zu Dr. Abo. »Sie wollen mit mir sprechen?«
»Ja, das stimmt«, sagte Dr. Abo höflich, »doch ich glaube, diese Leute sind noch nicht fertig …«
Dusty stand auf, ignorierte das Paar. »Glauben Sie mir, sie sind fertig. Hey, ist Ihr Name Abo?«
»Ja, genau.« Er streckte die Hand aus.
Sie schüttelte sie, und in ihrem Händedruck spürte er große Körperkraft, achtsam zurückgenommen. Sie