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Februar, ein Jahr und sieben Monate zuvor
Schimmernde, lächelnde, hasserfüllte oder neugierige fremde Augen starrten sie in der Dunkelheit aus runden, ovalen oder mandelförmigen Löchern an, einige von ihnen waren von glitzerndem Strass, Vergoldung und kunstvollen Ornamenten umgeben. Die Volksmenge schubste und drückte, sodass sie keine Luft bekam. Ihre eigene Maske hatte sie längst verloren. Kleidung, die an eine vergangene Zeit erinnerte, und große Hüte schlugen ihren rauen Stoff in ihr Gesicht. Heute Nachmittag hatte sie sich über die vielen flatternden Tauben hier auf dem Markusplatz erschreckt. Alles mit Federn verursachte ihr Atemnot, nachdem sie als Kind Hitchcocks Horrorfilm Die Vögel gesehen hatte. Deswegen mochte sie auch eine lila Federmaske nicht, die zwei Vogelschwingen mit schiefen, lauernden Augen in der Mitte ähnelte, die ihr viel zu nah gekommen war. Alle waren viel zu nah. Sie war mitten in einem Umzug gelandet und schnappte nach Luft, atmete aber erleichtert auf, als sie spürte, wie Kasper ihre Hand ergriff und sie aus der lebhaften Schar schreiender, lärmender und singender Italiener zog, die wohl hauptsächlich Touristen wie sie selbst waren.
»Lass uns einfach zurück zum Hotel und in die Bar auf einen Schlummertrunk gehen, ja?« Seine Stimme konnte den Lärm fast nicht übertönen, aber sie fing die Worte dennoch auf, es waren die einzigen, die auf Dänisch gerufen wurden. Damit war sie sehr einverstanden und zwängte sich willig durch das Gewimmel, von einer Hand nach vorne gezogen, deren Besitzer sie so gut kannte: die Hautoberfläche, den warmen, festen Griff und die Sicherheit. Dann kam Luft, und es war eine wahre Befreiung, das Licht der Fenster in der Hotelrezeption zu sehen. Sie liefen lachend die Treppe hoch, als ob sie Schutz vor einem heftigen Gewitterschauer suchten. Die Bar war beinahe genauso proppenvoll wie der Markusplatz und die Straßen und Gassen, aber Kasper fand einen freien Tisch in einer Ecke, wo sie erleichtert auf ein bequemes Sofa sank, während er etwas von der Bar holte. Sie zog die Schuhe aus und rieb sich ihre schmerzenden Füße; sie pochten und waren angeschwollen. In einer Boutique hatte sie einfach nicht widerstehen können und hatte diese neuen, italienischen Schuhe gekauft. Jetzt wirkten sie plötzlich drei Nummern zu klein. Es war eine Wohltat, sie auszuziehen und den kalten Marmorboden an den Fußsohlen zu spüren. Kasper reichte ihr das Glas mit Sambuca mit einem müden Lächeln, nachdem er fast eine halbe Stunde in einer kilometerlangen Schlange vor der Theke der Bar gewartet hatte. Sie nahm es entgegen und atmete den Anisduft ein. Sie war diesem wasserklaren Likör erlegen im Laufe der Woche, die sie in Venedig im Urlaub gewesen waren, um genau den Maskenball zu erleben, von dem sie nun geflüchtet waren.
»Ich habe doch gesagt, dass du nicht diese Stilettos anziehen sollst, Sara«, warf er ihr mit dem altklugen Wundert-sich-über-Frauen-Kopfschütteln eines Mannes vor und setzte sich neben sie.
»Ich weiß, aber wir sind ja in Italien, oder? Ich will nicht völlig daneben aussehen. Die Leute hier sind so elegant.«
»Na, nicht alle – die Touristen schon gar nicht. Es ist ja auch Karneval, also was soll’s?« Er lächelte und nahm einen großen Schluck von seinem Bier. Er mochte keinen Likör.
»Ich habe meine Maske verloren, die war wirklich ganz schick.«
»Wir kaufen morgen einfach eine neue, das schaffen wir locker, bevor wir abfliegen. Wir müssen ja schon bis Mittag hier raus sein, also haben wir nichts anderes zu tun, bis wir zum Flughafen fahren müssen.«
Sie lehnte sich zurück und entspannte sich endlich mit seinem Arm an ihrem Nacken. Hier, an seine Brust gelehnt, gab es nichts zu befürchten, nicht einmal Masken oder Vogelschwingen.
»Wer wohl auf die Idee gekommen sein mag, dass man sich so verkleiden und feiern sollte?« Kasper bewunderte ein paar weibliche Bargäste mit prachtvollen Perücken und schmalen Stabmasken, hinter denen sie ihre Augenpartie verbargen. Sie sahen aus wie Wiedergänger aus dem Barock. Sara lächelte, sie hatte Lust, ein wenig zu glänzen nach dem Misserfolg des abendlichen Maskenballs, der nicht ganz wie erwartet verlaufen war. Sie hatten vorgehabt, sich nicht aus den Augen zu verlieren, und sie wusste, es war ihre Schuld, dass es passiert war. Ihre Neugier hatte sie von Kasper weggezogen. Curiosity killed the cat, pflegte er sie schelmisch zu warnen, wenn sie ihm entschwand.
»Die Tradition reicht bis ins 11. Jahrhundert zurück und ist eng mit der Geschichte Venedigs verbunden. Damals war es ganz normal, dass man seine Identität hinter Masken verbarg, wenn man sich in der Stadt amüsierte.«
»Damit der Ehepartner es nicht entdeckte?«
»Vielleicht auch deswegen, aber hauptsächlich um Standesunterschiede und anderes auszugleichen, was ansonsten eine Person aus dem sozialen Netzwerk ausschließen kann. Man konnte sich verstecken und für einen anderen ausgeben als der, der man war.«
»Das Facebook von damals?«
»Ja, irgendwie schon.« Sie lachte, als sie sah, dass er seine Maske wieder aufgesetzt hatte. Sie war nicht so hübsch, wie ihre es gewesen war, aber auch nicht eine der unheimlichen, die er sonst gekauft hätte. Das hatte sie verhindern können. Sie hatte mit ihrem verschlossenen, roten Mund etwas Trauriges an sich, was seine lächelnden Augen, die sie aus den mandelförmigen, übertrieben von Goldglitzer umgebenen Augenhöhlen anschauten, ganz unpassend wirken ließ. Auf die eine Wange war eine schwarze Träne gemalt.
»Schaffen wir es morgen auch noch ins Ca’Rezzonico-Museum? Da kann man die Gemälde des Rokokomalers Pietro Longhi aus dem Alltag von damals sehen, als sowohl Männer wie Frauen die bekannte weiße Bauta-Maske trugen, die ich so unheimlich finde. Sie erinnert mich an den Tod in Venedig.«
»Du guckst zu viele Filme, mein Schatz. Wo liegt das Museum?«, fragte er durch die Maske mit dumpfer Stimme.
»Soviel ich weiß, in einem der Paläste am Canal Grande.«
»Das schaffen wir bestimmt noch.«
Sie saßen eine Weile ohne zu reden da, damit beschäftigt, Leute zu beobachten. Die meisten waren mit aufwendigen und originellen Kostümen verkleidet.
»Die beiden Mädchen da drüben sind Däninnen. Bisher haben wir nicht viele Dänen getroffen. Die eine kommt sogar auch aus Aarhus«, sagte Kaspar beiläufig, und sie versuchte seinem Blick zu folgen. Sie saßen an der Bar, ein Stückchen von ihnen entfernt, und trugen beide Masken.
»Woher weißt du das? Hast du mit ihnen geredet?«
»Ja, mit der Blonden da stand ich in der Schlange an der Bar.« Sara verbarg ein kleines Lächeln.
»Natürlich mit der Blonden.«
»Was meinst du damit?«
»Ach, es hätte mich bloß gewundert, wenn du dich mit der Brünetten unterhalten hättest. Du weißt doch, Männer und Blondinen.« Sie sagte das ohne Eifersucht, weil sie Kasper vertraute. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit und die Freundschaft aus diesen Tagen hatte sich genau so ruhig und stetig entwickelt, wie sie aufgewachsen waren. Nur ein paar Jahre waren sie getrennt, als Kasper im Ausland studiert hatte. Dann kam er nach Aarhus zurück, sie wurden ein richtiges Paar und zogen in eine kleine Zweizimmerwohnung in Trøjborg. Als sie einen Job als Gesundheitspflegerin und Kasper als Kameramann bei Danmarks Radio bekam, kauften sie ein gemütliches kleines Haus ein bisschen außerhalb von True. Kinder und Ehe waren noch kein Thema gewesen, und Sara wartete geduldig, ohne Kasper zu drängen.
»Sie hat mich angesprochen, nicht umgekehrt. Sie muss wohl gehört haben, dass wir Dänen sind. Sie hat gefragt, ob ich Fotograf wäre, weil ich die große Kameratasche über der Schulter hatte, und als ich geantwortet habe, dass ich ein Kameramann fürs Fernsehen bin, war sie sofort Feuer und Flamme.«
»Gute Anmache!« Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu und nippte an dem Sambuca.
»Die jungen Leute heutzutage wollen partout bekannt werden, so ist das einfach. Scheißegal, ob sie Talent haben oder nicht. Heute berühmt, morgen vergessen. Guck dir nur an, wie beliebt Sendungen wie ›X-Factor‹, ›Teenie-Mütter‹, ›Paradise Hotel‹ oder ›Der Bachelor‹ sind. Das