Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5. Inger Gammelgaard Madsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Inger Gammelgaard Madsen
Издательство: Bookwire
Серия: Roland Benito
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711668597
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gesichtet worden sein sollte, und soviel sie wusste, war da auch etwas mit einem Luchs gewesen, den einmal vor vielen Jahren einige am Kolding-Gebiet gesehen hatten. Vielleicht floh das Tier bloß vor ihr. Der Gedanke war beruhigend. An den Gerüchten um den Wolf oder Luchs damals war sicher nichts dran gewesen, soweit sie sich erinnerte. Nun durfte die Phantasie die Dinge auch nicht schlimmer machen, als sie waren. Um den Schmerz der Milz zu lindern, stemmte sie die Hand in die Seite und versuchte ein bisschen schneller zu laufen, aber dann sah sie es wieder. Es hatte auf sie gewartet. War vorgelaufen und hatte gewartet. Sie war die Beute. Wie der Fuchs es auch gewesen war. Es war einer dieser Kampfhunde, die sie im Fernsehen gesehen hatte. Die, die einem neuen Gesetz zufolge gesetzwidrig waren. Jetzt kam er ihr entgegen und setzte zum Sprung an. Reflexartig hielt sie die Arme abwehrend vors Gesicht und spürte zuerst, wie sich die Zähne in das Fleisch ihres einen Armes bohrten, bis ein knackendes Geräusch vom Knöchel kam, dann sein Gewicht, ungefähr wie ihr eigenes, das sie umwarf. Alles war ein schaumiger Wirrwarr aus Kampf, Geräuschen, Gerüchen und Schmerzen. Das Schnauben des Hundes, ihre panischen Schreie und Jammern, feuchte Wärme, Sabber und der Gestank fauligen Atems, als der große Kopf mit Augen ohne Zeichen von Gefühlen oder Versöhnung direkt über ihrem war. Das Ganze dauerte nur ein paar Sekunden. Eine Menge Gedanken schafften es trotzdem, durch ihr Gehirn zu schießen. Das letzte Bild, das sie sah, bevor alles verschwand, als ob sie eine gesegnete Spritze gegen den Schmerz bekäme, war der zerfleischte Fuchs.

      Der Hund, ein schwarzgescheckter American Staffordshire Terrier, zog seine Beute weg von dem Pfad zwischen die Bäume. Der Morgentau lag immer noch auf dem Gras.

      11

      Plötzlicher Kindstod. Roland legte den alten Bericht zur Seite und rieb seinen schmerzenden Nacken. Damals, als seine Mädchen klein gewesen waren, hatte er überhaupt nicht an so etwas gedacht. Hatte Irene? Und Rikke mit Marianna? Nun war bald Olivia an der Reihe zu befürchten, sein neues Enkelkind tot in der Krippe zu finden. Er war verstört, stand rastlos auf und holte einen Plastikbecher aus dem Stapel beim Drucker. Hatte eigentlich schon eine Menge Kaffee bei der morgendlichen Besprechung getrunken, aber schenkte sich dennoch ein, obwohl er es nicht brauchte. Natürlich würde das nicht passieren. Plötzlicher Kindstod war nicht mehr so gewöhnlich, hatte der Rechtsmediziner Leander gesagt. Nun war der kleine William ja auch nicht so gestorben wie zuerst angenommen. Und wenn jemand das wusste, dann doch wohl er? Es war Mord. War Sara Dupont geflohen, weil sie schuldig war oder weil sie es nicht war?

      »Ich dachte, du willst vielleicht dein übrig gebliebenes Puddingteilchen zum Kaffee haben«, sagte Niels Nyborg und legte eine Tüte vom Bäcker vor ihn.

      Roland schaute hinein. »Das sind ja zwei.«

      »Ja, Dan kommt doch später, also ist das wohl seins. Ich dachte, ich leiste dir ein wenig Gesellschaft, bevor ich mit der zweiten Befragung im Viertel um die Gerichtspsychiatrie anfange.« Niels holte sich auch einen Becher und ließ Roland einschenken. Dann zog er einen Stuhl an den Tisch, setzte sich und nahm das eine der Puddingteilchen. Das war die Strafe fürs Zuspätkommen. Kein Morgengebäck.

      »Sie muss sich ja irgendwo verstecken. Ich verstehe nicht, dass niemand etwas gesehen hat«, murmelte Roland und nahm einen Bissen von einer fetttriefenden Zimtschnecke.

      »Die Suchmeldungen im Radio und Fernsehen haben nichts Brauchbares ergeben. Wie uns doch die totale Überwachung fehlt. Kameras überall so wie in England. Die englische Polizei kann das Tun und Treiben des Mörders verfolgen, sobald er aus seiner Haustür geht. Das habe ich in einem Krimi auf BBC gesehen.«

      »Das ist doch ein Film, Niels«, lächelte Roland. »Tatsächlich hat Dänemark mehr Überwachungskameras pro Einwohner als Großbritannien.«

      »Ja, aber das gilt ja nicht für die öffentlichen Räume. Das sind Privatpersonen und private Unternehmen, die uns in dieser Statistik hochstufen. Ich bin echt der Meinung, dass wir hier sitzen und alles live auf einem Mosaik von Fernsehbildschirmen mitverfolgen können sollten.«

      »Meinst du das ernst, Niels? Glaubst du nicht, dass das die Leute noch paranoider machen würde, wenn ihnen an jeder Straßenecke eine Kamera hinterher schwenkt? So gefährlich ist das Leben trotz allem dann auch nicht.«

      »Was macht das, wenn man eine reine Weste hat? Und auf die Kameras achten die Leute überhaupt nicht. Wie viele wissen wohl, dass sie am Fluss, am Europaplatz und am Bahnhofsvorplatz von uns videoüberwacht werden?«

      Es gab keinen Zweifel daran, dass es ihrer Aufklärung von Verbrechen wie Vandalismus und Überfällen massiv helfen könnte, wenn es so werden würde, wie Niels es sich wünschte. Vielleicht sogar, ohne dass sie ihre Hintern bewegen mussten. Aber eine totale Überwachungsgesellschaft wie die alte DDR wünschte sich sicher niemand. Und brachte es überhaupt etwas? Neapel sollte eine der meist überwachtesten Städte in Italien sein im Kampf gegen die Camorra. Vor fünf Jahren waren 440 hypermoderne Kameras im Wert von sieben Millionen Euro angebracht worden; jetzt funktionierte nur noch die Hälfte. In Mailand werden alle Autos, die in die Stadt fahren, gefilmt und registriert, und damit auch alle Personen, und im Trentino wird außerdem die Friedhöfe überwacht, um Vandalismus zu vorzubeugen. Wann wurde man dann in Ruhe gelassen? Nicht einmal zusammen mit den Toten. In der Regel waren die Bilder von den Kameras so schlecht, dass es trotzdem nicht leicht war, die Täter zu finden, es sei denn sie hatten besondere Kennzeichen.

      »Was ist mit dem Auto, das der Taxifahrer gesehen hat? Ein silberfarbener Chevrolet, oder? Den hast du heute Morgen nicht erwähnt. Wird der nicht gesucht?«, kaute Niels.

      »Jedenfalls gab es einen Ansturm auf die Telefone. Von dieser Marke und in dieser Farbe fahren eine Menge herum, und ohne Kennzeichen ist es völlig unmöglich. Aber Mikkel untersucht, ob er der Familie Dupont gehören könnte. Vielleicht haben sie zwei Autos.«

      »Wer kann sich das heute leisten?«

      Rolands Gedanken wanderten sofort zu der Garage in Høj­bjerg und Irenes einsamem Hyundai, der sicher nie wieder herauskommen würde, um zu fahren. Sie hatten sich eigentlich auch keine zwei Autos leisten können, aber es war eine Notwendigkeit gewesen. Damals. Nun musste Irene nicht mehr zur Arbeit, und er hatte auch schon in Erwägung gezogen, es zu verkaufen. Aber wieder – das wäre das Gleiche wie zu Irene zu sagen, dass es keine Hoffnung gäbe. Und wer wusste das schon, trotz allem.

      »Sagte der geehrte Dan Vang, wann er heute auftauchen wollte? Er wollte doch heute noch kommen?«

      »Ja, irgendwann gegen Mittag. Dem Jungen ging es wohl ein bisschen dreckig.« Niels knüllte die Tüte vom Bäcker zusammen und wischte gleichzeitig die klebrigen Finger daran ab.

      Roland knurrte verärgert, aber natürlich konnte man ja mitten in einer wichtigen Arbeit krank werden. Nicht, dass er selbst das versucht hätte. Eine Handvoll Aspirin half gegen das meiste. Aber diesen Trick kannte Dan bestimmt nicht.

      »Also, wie in der Besprechung erwähnt werde ich noch mal mit der Oberärztin Mai Andersen sprechen, damit wir einen Überblick über die Medikamenteneinnahme der Patientin bekommen können. War sie überhaupt imstande, allein zu fliehen?« Er stand auf. Niels tat es ihm gleich und überragte Roland plötzlich um 40 Zentimeter. Seine Größe verursachte eine vornübergebeugte Haltung, als ob er versuchte, die gleiche Luft wie alle anderen zu atmen.

      »Wissen wir, wer sie besucht hat?«

      »Nein, darüber werde ich auch mit der Oberärztin sprechen. Wir brauchen die Besucherliste.«

      »Ich finde Isabella und nehme sie mit zur Klinik. Es ist immer nett mit einer Frau an seiner Seite.« Er blinzelte nach unten zu Roland. Sie gingen gemeinsam zum Aufzug. Pat und Patachon, mochten die anderen denken, ging es Roland durch den Kopf. Wenn die jungen Leute heutzutage überhaupt wussten, wer die beiden waren. Jetzt hießen sie sicher Beavis und Butt-Head.

      Am Nachmittag saß er wieder im Büro und versuchte einen verständlichen Bericht der heutigen Vernehmung zu schreiben. Wie es ihm geschwant hatte, hatte er keine Ahnung von den unterschiedlichen medizinischen Bezeichnungen, die die Oberärztin heruntergerattert hatte, und bei denen sie davon ausging, dass sie ihm geläufig waren. Tabletten gegen Angst, Tabletten gegen Unruhe, Tabletten gegen Depression und Tabletten dagegen, nicht völlig apathisch zu werden. Seine