Die nächsten zwei Wochen, in denen Philipp die Vorbereitungen für ihre Abreise tätigte, verflogen schnell. Ihrem Mann und Frederica hatte Maureen weder von den verletzenden Worten ihrer Mutter, noch von der Gefahr, in die sie geraten war, und von der Begegnung mit Alan McLaud erzählt. In zwei Tagen würde sie Edinburgh verlassen und weder Laura noch diesen unverschämten Schotten jemals wiedersehen.
Vier Tage war Maureen nicht zu ihrer Mutter gegangen. Zusammen mit Frederica hatte sie Einkäufe gemacht und die Baines besucht, die zeitgleich mit ihnen die Stadt verlassen würden. Maureen rang mit ihrem Pflichtgefühl gegenüber ihrer Mutter und der bitteren Erkenntnis, dass Laura keinen Wert auf ihre Anwesenheit legte. Schließlich zog es sie aber doch wieder in das kleine Zimmer über der schäbigen Schenke. Es war mehr als nur Pflichtbewusstsein, sie spürte, dass Laura ihr noch nicht alles erzählt hatte. Es musste etwas geschehen sein, das Laura zu dieser harten, verbitterten Frau gemacht hatte.
Frederica freute sich, das Weihnachtfest zu Hause zu verbringen.
»Wir feiern doch wie jedes Jahr zusammen mit den Linnleys, nicht wahr?«, fragte sie voller Hoffnung.
Maureen wusste, welche Gedanken Frederica beschäftigen: Das Mädchen spekulierte darauf, am Weihnachtstag von George Linnley endlich den ersehnten Heiratsantrag zu erhalten. Während ihres Aufenthaltes in Edinburgh hatte Frederica mehrere Briefe an George geschrieben, obwohl das eine Dame eigentlich nicht tun sollte. Die Tatsache, dass George ihr nie geantwortet hatte, schien sie ebenso zu verdrängen, wie dass Lady Esther eine Verbindung mit einer entfernten Verwandten wünschte.
Maureen war wenig erpicht darauf, in Bälde sich wieder mit dieser unseligen Angelegenheit auseinandersetzen zu müssen. Ihre Hoffnung, Frederica würde während der Reise George Linnley vergessen, hatte sich leider nicht bewahrheitet.
Mit dem Anwalt, der sich um die Überführung und Beerdigung von Lauras Leichnam kümmern würde, war alles geregelt. Einen Tag vor ihrer Abreise ging Maureen das letzte Mal zu ihrer Mutter. Das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite und die Sonne stand am wolkenlosen Himmel, aber der vom Meer kommende Wind war eiskalt und ein Vorbote des kommenden Winters. Die trockene Luft linderte Lauras Beschwerden. Sie hatte rote Wangen, und ihre Augen waren klar und nicht länger von dunklen Schatten umrandet. Je näher der Abschied rückte, desto entsetzlicher fühlte Maureen sich dennoch. Sie ließ ihre todkranke Mutter zurück, die sie nie mehr wiedersehen würde. Diese Gewissheit nagte während der letzten Tage an Maureen, und es gelang ihr nicht, das schlechte Gewissen zu verdrängen. Laura weigerte sich weiterhin, ihre ärmliche Behausung zu verlassen. Sie wollte auch auf keinen Fall die Hilfe einer Pflegerin annehmen, was Maureen zusätzlich Sorge bereitete, sie hatte aber aufgegeben, Laura zu überzeugen – es wäre zwecklos gewesen.
Da sie sich heute wohl fühlte, bat Laura Maureen, sie zum Friedhof zu begleiten. Stumm nahm Maureen am Grab ihres Vaters Abschied, und der Gedanke, das Grab ihrer Mutter niemals zu sehen, stimmte sie traurig. Es war aber unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder nach Schottland zurückkehren würde.
»Der Tod ist nur der Anfang von etwas Anderem, etwas viel Größerem. Wir Lebenden können das nur nicht begreifen.«
Erstaunt sah Maureen ihre Mutter an. Instinktiv hatte Laura im richtigen Moment die richtigen Worte gewählt. Maureen fühlte sich sofort etwas getröstet.
»Lass uns gehen«, bat Laura und hakte sich bei Maureen unter.
Der steile Anstieg zum West Bow ging doch über Lauras Kräfte. Sie hustete, erbleichte, und der Atem drang rasselnd aus ihrer Kehle.
»Schaffst du es, Mutter?«, fragte Maureen besorgt. »Vielleicht sollte ich Hilfe …«
»Nein, nein, es geht schon«, wehrte Laura ab. »Wenn ich mich nur auf dich stützen darf.«
Keuchend und hustend schleppte Laura sich immer nur wenige Schritte weiter, dann musste sie stehen bleiben und so hektisch nach Luft schnappen, dass Maureen Angst bekam. Sie stützte Laura und überlegte, wo sie wohl Hilfe holen konnte, denn sie würden es unmöglich allein schaffen bis zu der Schenke. Als sie sich umsah, bemerkte sie vier englische Offiziere, die sich ihnen näherten. Sie trugen die auffälligen, roten Uniformen und wurden von zwei Damen begleitet, die diese Bezeichnung nicht verdienten. Maureen erkannte sofort, welchem Gewerbe die Frauen nachgingen. Für ehrbare Frauen waren ihre Kleider zu tief dekolletiert und die Gesichter zu grell geschminkt. Offenbar hatte die Gruppe trotz der frühen Stunde dem Alkohol reichlich zugesprochen, denn die Männer grölten ein obszönes Lied. Einer der Offiziere wankte so dicht an Laura vorbei, dass er sie anrempelte und sie beinahe zu Boden gestoßen hätte. Maureen konnte sie gerade noch auffangen.
»He, du Schlampe, versperr gefälligst nicht die ganze Straße!«,
blaffte er, und Maureen roch seinen weingeschwängerten Atem.
»Was fällt Ihnen ein, zwei harmlose Damen zu belästigen?«
Zornig blitzte Maureen den Offizier an, der sich ebenso wenig wie seine Begleiter von ihrer Empörung beeindrucken ließ. Sie lachten hämisch, die Huren kicherten und hängten sich bei dem Wortführer ein. Sie maßen Maureen und Laura mit spöttischen Blicken und gingen weiter.
Der Vorfall war kaum der Rede wert. Maureen hätte die Männer nicht weiter beachtet und sie weiterziehen lassen. Bevor sie sich wieder Laura zuwenden konnte, hatte diese bereits ihre ganze verbleibende Kraft zusammengenommen, einen großen Stein von der Straße aufgehoben und diesen gezielt nach dem Offizier, der sie angepöbelt hatte, geworfen. Der Mann wurde von dem Stein an der rechten Schläfe getroffen. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen, und seine Begleiter starrten fassungslos auf das Blut, das aus einer kleinen Wunde auf den weißen Uniformkragen tropfte. Danach ging alles sehr schnell.
»O Gott!«
Maureen schrie laut auf, als sie von hinten gepackt und ihre Arme auf den Rücken gedreht wurde, so dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Ein zweiter Offizier tat das gleiche bei Laura, in deren Augen blanker Hass loderte. Sie versuchte sogar, dem Offizier ins Gesicht zu spucken. Der Zwischenfall hatte zahlreiche Passanten angelockt, die sich in einem Halbkreis um sie scharten. Niemand schritt ein, alle standen nur da und gafften. Die beiden Straßenmädchen nutzten die Gelegenheit und tauchten in der Menge unter, denn mit Ärger wollten sie nichts zu tun haben.
Der Offizier wischte sich das Blut aus dem Gesicht, trat vor Laura und schlug sie hart ins Gesicht.
»Wolltest mich wohl umbringen, du Miststück? Ein Angriff auf Armeeangehörige hat weitreichende Folgen für euch. Verlasst euch drauf!«
»Bitte entschuldigen Sie, Sir. Meine Mutter ist schwer krank, sie war sich nicht bewusst, was sie tat. Ich bin sicher, sie wollte Sie nicht verletzen.«
Verzweifelt versuchte Maureen ihn zu besänftigen. Er drehte sich zu ihr und musterte sie von oben bis unten.
»Du bist keine Schottin«, stellte er sachlich fest, dabei blieben seine Augen kalt wie Stein.
»Nein, ich bin Engländerin«, sagte sie schnell. »Mein Ehemann war viele Jahre Captain in der Armee. Wenn Ihr Begleiter vielleicht die Freundlichkeit hätte, seinen Griff etwas zu lockern. Ich verspreche, dass wir nicht fliehen werden.«
Womöglich konnte es jetzt von Vorteil sein, sich als Engländerin auszugeben. Unwillkürlich dachte Maureen daran, wie der unverschämte Schotte sie beleidigt hatte, gerade weil sie mit einem Engländer verheiratet war.
Der Offizier zeigte sich von ihren Worten unbeeindruckt, offensichtlich glaubte er Maureen kein Wort. Er wandte sich an seine Begleiter: »Bringt sie ins Old Tolbooth. Ein Richter soll entscheiden, was mit ihnen geschehen soll.«
Maureen gelang es, einen Arm aus der Umklammerung zu lösen, und griff schnell in die Tasche des Rocks. Zu ihrer Erleichterung fand sie einen Penny. Sie drückte einem zerlumpten Jungen, der direkt neben ihr stand, das Geldstück in die Hand und flüsterte: »Lauf so schnell wie möglich zum Charlotte Square, Haus Nummer zwölf. Erzähl dem Mann dort, was geschehen ist, und sag ihm,