»Was willst du? Ich habe seit bald – ja, wie lang mag das sein? – dreizehn, vierzehn Jahren nichts von dir gesehen oder gehört? Und dann tauchst du plötzlich mitten am Vormittag hier auf – unangemeldet!«
Rose sah ihre Tochter lange an. »Du warst erst vierzehn, ja. Ich erinnere mich genau.« Ihr Blick flackerte, und sie beeilte sich, ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche zu suchen. »Es tut mir leid, was zwischen dir und Torsten passiert ist, ich wollte ...«
»Was wolltest du? Mir helfen? Nein, verdammt, das wolltest du nicht. Du hast nur an diese vier Mistkinder gedacht – seine Nachkommen. Die haben dir mehr als deine eigene Tochter bedeutet!«
»Nein, Ann. Das stimmt nicht! Natürlich warst du am wichtigsten. Aber du warst so ...«
Sie schaute sie prüfend an. »Du hast dich sehr verändert. Nur deine schwarzen, widerspenstigen Haare sehen noch wie früher aus. Damals warst du ein wandelndes Nadelkissen, überall Metallstifte und das schwere, schwarze Make-up und deine Klamotten, du sahst ja furchtbar aus.« Sie lachte heiser und konzentrierte sich darauf, ihre Zigarette anzuzünden. Das Feuerzeug klickte ein paarmal, bis es gelang.
Anne starrte sie böse an.
»Und niemand hat uns verstanden. Einen Dreck habt ihr verstanden!« Sie zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, ihre Hand zitterte.
»Wir haben für Gerechtigkeit gekämpft. Aber wie sollte ich Gerechtigkeit in der Welt fordern, wenn sich herausstellt, dass mein Stiefvater ein gemeiner Drogendealer und Mörder ist und meine Mutter ihn darin auch noch unterstützt!«
Rose zupfte nervös an ihren Ärmeln, ihre Augen waren auf die fast geschmolzenen Eiskristalle an der Fensterscheibe gerichtet. Sie hatte den Mantel nicht ausgezogen und Anne bat sie auch nicht darum, denn sie sollte bald wieder gehen.
»Du hast bestimmt mitbekommen, was heutzutage in Nørrebro passiert, oder?! Nennst du das Gerechtigkeit?« Ihre Mutter schaute sie wieder an. »Wir können nicht auf die Straße gehen, ohne Angst haben zu müssen, von verirrten Kugeln rivalisierender Banden getroffen zu werden. Heute gibt es wirklich etwas, worum man in Nørrebro kämpft, wenn man Gerechtigkeit haben will. Damals war das nicht so. EU-Abstimmung und – ein Jugendzentrum!« Sie schnaubte das Wort zusammen mit dem Rauch aus, der aus beiden Nasenlöchern kam.
So kannte sie ihre Mutter. Anne hatte nie etwas getan, das in ihren Augen gut genug gewesen wäre. Natürlich war sie von zu Hause abgehauen, ohne zu sagen, wo sie sich aufhielt. Aber hatte ihre Mutter sie als vermisst gemeldet? Hatte sie überhaupt nach ihr gesucht? Sie hätte tot sein können. Ermordet!
»Wie hast du mich eigentlich gefunden? Damals hast du mich doch auch nicht gefunden«, fragte sie zurückhaltend.
»Das war Torsten, Schätzchen. Er hatte mir versichert, es wäre am besten, dich in Ruhe zu lassen. Dass du deine eigenen Erfahrungen machen würdest.«
»Okay – als Vierzehnjährige?!« Anne zog vorwurfsvoll eine Augenbraue hoch und schüttelte missbilligend den Kopf. »Und auf Torsten hast du immer gehört. Weißt du, dass er mich aufgesucht hat, als er auf Bewährung freigelassen wurde?« Sie schaute die kleine Frau direkt an, die unter ihrem Blick noch weiter zu schrumpfen schien.
»Nein, das hat er nicht erwähnt. Ich besuche ihn nicht mehr so oft. Ich kann es nicht ausstehen, in dieses Gefängnis zu gehen. Er hat dir doch wohl nichts getan?« Sie klang aufrichtig besorgt.
»Ich hab’s überlebt, wie ich es immer ohne deine Hilfe geschafft habe – und mit ein paar zusätzlichen Narben als Erinnerung.«
»Du wirst doch wohl verstehen, dass ich nicht eingreifen konnte, wenn er dich geschlagen hat. Dann hätte er mich totgeschlagen. Das weißt du doch!«
»Hätte er sich nur mit Schlagen begnügt. Du hättest von ihm wegziehen können, Mutter! Warum sind wir nicht einfach umgezogen?« In ihrer Stimme lagen Tränen, wie damals bei dem kleinen Mädchen, das seine Mutter anflehte umzuziehen, ohne dass die zuhörte. Das tat sie jetzt auch nicht. Sie hatte eine Ausgabe des Tageblatts aus einem Stapel auf dem Boden genommen und sie beiläufig durchgeblättert. »Das ist also die Zeitung, die du machst«, stellte sie mit mütterlichem Stolz in der Stimme fest.
»Ich mach die nicht. Darin sind nur ein paar Artikel, die ich geschrieben habe.« Der Themenwechsel kam ihr sehr gelegen. Sie wollte über die Vergangenheit und Torsten am liebsten weder reden noch nachdenken.
»Du musst gut verdienen, wenn du es dir leisten kannst, hier zu wohnen. Ich bin in eine kleine Einzimmerwohnung in Nørrebro gezogen. Konnte mir nichts anderes leisten, die alte wurde renoviert und die Miete stieg um mehr als das Doppelte. Die andere ist billig, aber das ist auch eine alte Bruchbude.« Sie seufzte und legte die Zigarette auf den Rand des Aschenbechers, während sie weiterblätterte. Anne überlegte, was wohl aus ihren Stiefgeschwistern geworden war, aber fragte nicht. Wollte es eigentlich gar nicht wissen.
»Hast du Arbeit?«, fragte sie stattdessen.
»Nee, was kann ich machen? Einen Dreck. Ich habe nicht deine Fähigkeiten. Aber glücklicherweise wohnen wir ja in einem Land, das sich um die Schwachen kümmert, obwohl es hart sein kann, in diesem System zu sein. Die fordern heutzutage so viel von uns, es wird immer schlimmer und das Geld immer weniger.« Sie hatte die letzte Seite erreicht und schmiss die Zeitung gleichgültig zurück auf den Stapel. Anne saß unruhig auf dem Stuhl. Sie wollte nie wie ihre Mutter enden, so viel stand fest. Aber war sie auf dem Weg dorthin? Das soziale Erbe – war das trotzdem am stärksten?
»Du ähnelst deinem Vater. Von ihm hast du die kohlrabenschwarzen Haare.« Rose sah wieder auf das Foto ihres verstorbenen Mannes. Ein kleines, liebevolles Lächeln, das ihre Züge milderte, erschien um ihren faltigen Mund. Plötzlich konnte Anne sehen, dass ihre Mutter wohl einmal hübsch gewesen war.
»Alles in allem hast du nicht besonders viel über ihn erzählt«, meinte sie vorwurfsvoll. »Ich weiß nicht mal, wie er gestorben ist.«
Rose schaute immer noch auf das Foto, als spräche sie mit ihm und nicht mit Anne.
»Jonas war ein guter Mensch. Er war LKW-Fahrer und fuhr für verschiedene Firmen nach Dänemark. Ich hab ihn getroffen, als ich in einem Autobahncafé gearbeitet habe. Er kam immer rein und bekam ein Sandwich mit Hühnchen und eine Tasse Kaffee bei mir.«
»Er fuhr nach Dänemark – von wo aus?«
»Litauen. Er hieß Jonas Maldeikis.«
»Mein Vater war Litauer?!« Anne konnte ihre Verblüffung nicht verbergen.
Rose nickte. »Wir haben uns entschieden, dir nicht seinen auffälligen Nachnamen zu geben. Er war ein echter Kommunist.«
»Wie ist er gestorben?«
»Bei einem Autounfall an der polnischen Grenze. Du warst gerade zwei geworden.«
»Warum hast du mir das nie erzählt?«
Rose zuckte mit den Schultern. »Was hätte das gebracht? Du warst ja so klein. Im Jahr darauf traf ich Torsten, der stattdessen dein Vater sein sollte. Aber du hast ihn nie akzeptiert. Dann bist du weggelaufen. Du hast ihm nie eine Chance gegeben.«
»Jetzt hör aber auf!« Aufgebracht räumte Anne die Becher vom Tisch ab. Ihr Kopf rauchte von der neuen Information, dass sie litauisches Blut in den Adern und eine unbekannte Familie dort drüben hatte. Bedeutete das etwas für ihre Zukunft? Konnte sie das überhaupt zu etwas gebrauchen? Sie hatte noch nicht herausgefunden, welchen Zweck ihre Mutter mit ihrem Besuch verfolgte, aber das tat sie, bevor sie mit den leeren Bechern die Küche erreichte.
»Ich kann nicht zufällig ein paar Tage bleiben, Ann? In Nørrebro ist es so unsicher, ich trau mich nicht allein zu sein, und – ich hab nur dich.«
4
Henry Leander hatte Recht mit seiner Annahme bezüglich der Todesursache. Die Obduktion hatte gegenüber der Leichenschau keine neuen Erkenntnisse gebracht. Albert Hovgaard war brutal und rücksichtslos totgeschlagen worden.
Roland lehnte sich