»Doch, ich hab eine Katze«, antwortete sie mit einem kleinen Lächeln und zog sich unbewusst ein Stückchen zurück, als er ihr vorsichtig eine Locke aus der Stirn strich.
»Ich versteh nicht, dass du alleine bist! Warst du verheiratet? Hat dich jemand verlassen ... oder gibt es vielleicht jemanden, der ...«
»Worüber hast du geflucht?«
Pierre zuckte mit den Schultern und gab wieder mal auf, mehr über sie herauskriegen zu wollen. »Ach, das war diese Besprechung, bei der ich wegen des neuen Auftrags war, du weißt schon. Die wollen die Fische am Hafen fotografiert haben. Es passt perfekt, dass es gerade Schnee und Eis gibt, wie sie es in dieser Werbung haben wollen, aber die wollen echte Fische haben, um diese Scheiß-Plattfische auf ihrem Kutter zu präsentieren.« Müde fuhr er sich mit einer Hand übers Gesicht. »Ich habe sämtliche Fischer im Hafen von Aarhus angerufen und endlich einen gefunden, der bei dem Auftrag dabei wäre, aber jetzt will der Kunde das nicht im Hafen von Aarhus aufgenommen haben, sondern es soll einen großen Strand im Hintergrund haben. Herrgott!« Er stand auf und begann, die Fototasche auszupacken.
»Strand? Ja, aber wie willst du das machen?«
»Ich hab ein paar Fischer in Bønnerup Strand angerufen, das wäre optimal«, meinte er, während er mit schnellen Bewegungen ein Kabel aufrollte. »Aber es gab niemanden, der bei diesem Unterfangen mit von der Partie sein wollte. Die Fischer dort wirken noch scheuer und zurückhaltender. Als sie hörten, dass sie selbst mittun sollten, machten sie alle einen Rückzieher.«
»Wie soll das dann gehen?« Kamilla konnte es nicht lassen, ein bisschen über diese Episode zu schmunzeln. Das Ganze drehte sich um ein paar lumpige Schollen für eine Anzeigenkampagne. Das war ganz sicher eine spezielle Branche. Aber die Fischer und Bønnerup Strand erweckten auch andere Gedanken in ihr. Sie hatte es aufgegeben, ihren biologischen Vater zu kontaktieren, als sie die Stimme seiner Frau und Kinderlachen gehört hatte, damals im Herbst, als sie versucht hatte, ihn anzurufen. Sie wollte sein Leben nicht zerstören. Er war Fischer am Bønnerup Strand und hätte sie ihn gekannt, hätte er Pierre vielleicht helfen können, aber sie hatte nicht den Mut gehabt, noch mal anzurufen. In ihrem Leben gab es keinen Platz für weitere Rückschläge.
Pierre legte das eng zusammengerollte Kabel zurück in die Fototasche und zog den Reißverschluss zu. Er richtete sich auf, fuhr mit der Hand durch die dunklen, modisch geschnittenen Haare, die im Nacken ein wenig zu lang waren, und lächelte siegessicher. »Es ist mir tatsächlich gelungen, ein williges Opfer zu finden. Morgen fahre ich dahin und weißt du was, Kamilla, da es sich nun um Produktaufnahmen handelt – weil die Schollen ja tot sind und keine lebenden Modelle, nehme ich an –, finde ich, du solltest mitkommen, hast du Lust?«
Der Kopfschmerz nahm zu. Wollte sie das? Wollte sie sich dem Gebiet nähern, wo ihr Vater mit einer anderen Familie wohnte, vielleicht nicht ahnend, dass er eine Tochter von einem tragischen Unglück in seiner Jugend hatte? Sie schaute Pierre an, der gespannt auf eine Antwort wartete.
»Klar.«
Wenn Pierre befahl, gab es keine Widerrede.
11
Die Waschküche quoll über von schlammigen Stiefeln und Schuhen mit vom Streusalz weißen Rändern. Die Matte lag in einem See aus schmutzigem Schmelzwasser, und das junge Mädchen, das die Tür öffnete, sah ihn entschuldigend an, als er sich vorstellte. Sie trug eine locker sitzende Tunika in Orange, Rot und Gelb, die trotz ihres Schnittes nicht verbarg, dass sie ein paar Kilo zu viel auf den Rippen hatte. Ihr brauner, weiter Veloursrock verbarg auch nicht das große Hinterteil, als sie sich umdrehte und ihn ins Wohnzimmer führte, wo etwas mehr Ordnung herrschte. Sie hatte ein nettes Gesicht. Nett war das richtige Wort – runde Wangen, füllige Lippen, die keinen Lippenstift brauchten, um betont zu werden, eine süße, kleine Stupsnase und grüne Augen, die vor Leben sprühten, das Ganze umrahmt von dunkelblonden, langen Haaren, die wie eine Gardine um ihr Gesicht fielen, geteilt von einem deutlichen Mittelscheitel. »Anita Andersen«, hatte sie sich vorgestellt. Sie stand ein bisschen verlegen da und zog die Ärmel der Tunika herunter.
»Wollen Sie Tee haben? Oder vielleicht lieber einen Kaffee? Es ist bestimmt noch welcher in der Kanne.«
Roland nahm den Kaffee dankend an, um sich aufzuwärmen. Tee war nie seins gewesen. Mantel, Schal und Handschuhe legte er auf die Rückenlehne des Sessels, auf den er sich setzte, während sie in der Küche war. Hinter einer geschlossenen Tür erklang der Bass einer Rocknummer. Sicher eine dieser vielen neuen Bands, die am Firmament aufgetaucht waren. Ein bisschen zu heavy. Nicht sein Geschmack.
Anita war schnell zurück, den Kaffee auf einem Tablett zusammen mit großen Bechern und zwei Packungen Schokoladenkeksen. Offenbar benutzte heutzutage keiner mehr Kaffeetassen. Als der Becher halbvoll war, bat er sie, mit dem Einschenken aufzuhören. Sie setzte sich und füllte ihren bis fast zum Rand.
»Ich hab den anderen gesagt, dass Sie vorbeikommen und gerne mit uns reden würden«, demonstrativ schaute sie auf ihre Armbanduhr, »aber Sie sagten in zwanzig Minuten, es ist ja erst zehn Minuten her, seit sie angerufen haben.«
»Ich war gerade in der Nähe, aber dann können wir beide ja anfangen. Es geht um den Raubüberfall bei Ihren Nachbarn. Haben Sie letzte Nacht etwas Ungewöhnliches beobachtet?«
Sie trank, bevor sie antwortete. »Wir wohnen weit weg davon, daher glaube ich nicht, dass hier jemand etwas gesehen oder gehört hat.« Sie zögerte und nahm ihren Becher, obwohl sie ihn gerade erst abgestellt hatte. Sie saß da, den Becher zwischen den Händen, der Daumen fuhr an dem Porzellan auf und ab.
»Zu wievielt wohnt ihr hier?«
»Wir sind sechs Studenten. Linda und Andreas haben die WG zusammen gestartet. Andreas studiert an der Uni Geschichte und Linda geht auf die Sporthochschule. Bjørn studiert Biologie. Brian und Bitten sind zuletzt eingezogen, die kommen beide aus Kopenhagen. Brian geht auf die Technische Schule und Bitten ist Auszubildende in einem Friseursalon. Ich selbst besuche die Pädagogische Hochschule in Aarhus oder VIA, wie man sie jetzt nennt.« Sie trank wieder aus ihrem Becher. Gleichzeitig kam ein junger Mann die Treppe herunter. Er war fast genauso kräftig wie das Mädchen und erinnerte wegen seiner Kleidung an eine überdimensionale grüne Olive. Er gab ihm mit einem unbefangenen »Thorbjørn Møller« die Hand. Roland erwiderte den festen Händedruck und Anita erklärte, dass Thorbjørn der Biologiestudent war und sie ihn deswegen Bjørn, also Bär, nannten. Bjørn setzte sich neben sie, und dann wimmelten sie plötzlich aus ihren Zimmern wie Ameisen aus einem Ameisenhaufen. Roland sah flüchtig auf seine Armbanduhr. Es war exakt zwanzig Minuten her, dass er angerufen und sein Kommen angekündigt hatte. Er räusperte sich und war bereit, anzufangen, aber Anita stand auf und ging zu der geschlossenen Tür, aus der immer noch die Rockmusik durch die Wand dröhnte. »Wir sind noch nicht vollzählig«, sagte sie und klopfte an die Tür. Erst vorsichtig, dann ein bisschen aggressiver. Ein knurrendes »ja, ja, ja, zum Teufel« ertönte und die Musik stoppte.
Anita setzte sich wieder aufs Sofa und schaute resigniert in ihren Becher. Nach ein paar Minuten kam zuerst das Mädchen heraus. Sie hatte etwas Punkiges, aber nicht auf die extreme Art. Es waren die sehr markanten, schwarz umrandeten Augen, die diesen Eindruck vermittelten, und die abstehenden Haare, die von feuerwehrrot bis schwarz und lila schimmerten, die kurze, schwarze Lederjacke und nicht weniger das Nietenhalsband, das an den schwarz gescheckten Kampfhund von Olga und Vagn erinnerte. Der Mann – oder der Junge, war man versucht zu sagen –, der ihr gleichgültig folgte, war auch nicht gerade einer der netten Kerle. Als er die zu langen Haare zurückstrich, kam eine pickelige Stirn zum Vorschein. Lässig fläzte er sich in einen Sessel, den Blick abwesend auf die Kekspackung gerichtet. Die Augen waren kohlrabenschwarz, und wieder musste Roland an die amerikanische Bulldogge denken.
Er räusperte sich noch mal. »Na, sind dann jetzt alle hier?« Anita nickte und stellte die beiden Neuankömmlinge vor, die den Gast nicht einmal begrüßt hatten. Die Stimmung war gedrückt. Er überlegte, ob es sinnvoller gewesen wäre, mit jedem einzeln zu sprechen.