Anhang [2] „Melatonin and viral infections“. „Journal of Pineal Research“. 2004.
Diese Fachzeitschrift hat ihren Fokus auf der Zirbeldrüse, wissenschaftlich Glandula Pinealis, ähnlich geformt wie Zapfen des Pinienbaumes Zirbelkiefer. Deshalb heißt sie auch Pinealorgan. Ihre Zellen produzieren das Hormon Melatonin. Diese Drüse sitzt im Zentrum des Gehirns. Etwa sechs Millimeter lang, wiegt sie kaum ein Gramm. Diese Drüse reagiert auf die Wellenlänge des Tageslichts – die präziseste Information der Natur hinsichtlich der Tageszeit - ebenso wie auf Botschaften zur Jahreszeit.
Der ehemalige Chefredakteur und Herausgeber des „Journal of Pineal Research“ ist Prof. Russel J. Reiter. Der Professor für Zellbiologie lehrt am University of Texas Health Center, Graduate School of Biomedical Sciences, in San Antonio. Er ist seit Jahrzehnten der Kopf hinter zahlreichen wissenschaftlichen Studien mit dem Schlafhormon, international als „Melatoninpapst“ anerkannt und Verfasser grundlegender Bücher über Melatonin, beispielsweise „Melatonin: Die neue Waffe gegen Alter und Krankheit“ (Knaur. 1997).
Mutterhormon der Chronobiologie
Der Große Brockhaus schrieb noch 1984 über Melatonin nur, dass dieses Hormon bei Lurchen die Aufhellung der Haut bewirkt und bei Warmblütlern die Sexualität hemmt. Noch in klinischen Wörterbüchern der 90er-Jahre, also in den Lehrbüchern vieler heutiger Mediziner, ist zu lesen: „Physiologische Wirkungen sind nicht geklärt.“
Wieder drei Jahrzehnte weiter steht fest: Hier haben wir es mit dem überragenden Mutterhormon der Chronobiologie zu tun, mit dem ältesten Botenstoff der Weltgeschichte überhaupt, der in jeder Pflanze und in jedem Tier die inneren Uhren ticken lässt!
Im Gehirn gibt die Zirbeldrüse das Hormon Melatonin während der ganzen Nacht ins Blut ab und steuert mit ihm die Programmierung unserer Organe.
Bei Helligkeit ist die Ausschüttung niedrig. Der Übergang zur Dunkelheit löst im gesunden, jungen, voll bio-aktiven Körper das Anschwellen der produzierten Dosis dieses Hormons steil auf etwa das Achtfache an. Auf dieser Höhe bleibt es bis gegen Morgen. Mit diesem kraftvollen Signal schalten unsere inneren Uhren den Organismus auf nächtliches Erneuern und Reparieren um und bei Tagesanbruch wieder zurück auf die passende Aktivität. Ihre im Blut übermittelte Botschaft stellt Körperfunktionen während der Nacht ruhig und verschafft den meisten Organen eine Erholungspause. Der natürliche Schlaf parallel zu diesem Biorhythmus passt bestens ins Konzept – dadurch bleibt dem Körper die volle Kraft für Regenerierung.
Im älteren Organismus unterscheidet sich diese Hormoninformation deutlich. Sie wird um einige Stunden nach hinten verschoben und nur für sehr kurze Zeit produziert. Die biologische Nacht ist plötzlich sehr viel kürzer. Sie dauert nur von kurz vor Mitternacht bis kurz danach. Zusätzlich ergibt sich ein Riesenproblem: Der Anstieg erreicht häufig höchstens nur noch das Doppelte des Tageswertes. Diese geringe Differenz ist bei sehr vielen Personen zu schwach, um von den Organen überhaupt nachhaltig richtig verstanden zu werden. Sie gehorchen nicht auf den wichtigen Befehl, sich abends auf andere, ebenfalls lebenswichtige Aufgaben zu konzentrieren.
In solchen Fällen fehlt jedoch nicht allein die echte Nachtruhe. Das vereinfacht Schlafhormon genannte Melatonin ist eine Multi-Funktions-Substanz, und auch seine anderen Wirkungen sind schwächer oder bleiben aus.
Einer ihrer faszinierendsten Effekte ist die nächtliche, leichte Absenkung der Körpertemperatur. Damit sind nur günstige Folgen verbunden. Der natürlich unterkühlte Organismus entgiftet wirksamer und altert langsamer. Melatonin zügelt auch ausgleichend das Stresshormon Adrenalin. Das ist besonders hilfreich. Denn während der Einschlafphase sind die Nebennieren gewaltig angestrengt, um mit ihren Stresshormonen die vielfältigen Umstellungen auf den Nachtbetrieb zu begleiten, indem sie auch Puls, Blutdruck und Atemfrequenz anpassen. Darüber hinaus besitzt das so genannte Schlafhormon auch noch hoch effektive antioxidative und antiinflammatorische Eigenschaften sowie Anti-Tumor-Potenziale.
Überlagert wird dieses komplexe 24-Stunden-Geschehen durch die unterschiedlichen Verhältnisse während der Jahreszeiten. Evolutionsbedingt ist es von Natur aus so gewollt, dass die meisten Lebewesen in den helleren Monaten weniger schlafen. Tiere und vermutlich auch unsere Vorfahren sollten an den langen Tagen ihre Fettdepots auffüllen und Vorräte für die harten Wintertage speichern. Weit verbreitet ist auch heute noch die Tendenz, länger aufzubleiben.
Die eigentliche Dunkelperiode ist im Sommer kürzer – unsere Melatoninzeit ebenfalls. Besonders die im Süden rascher einsetzende Dämmerung erzeugt häufig einen Hell-Dunkel-Übergang, der zu schwach, beziehungsweise zu schnell ist, um die Hormonproduktion in vollem Umfang zu triggern. In Großstädten und ihrem Umfeld stört auch künstliches Streulicht diese natürliche Synchronisation. Geöffnete Fenster und luftige Gardinen tragen ebenfalls zu einer störenden Nachthelligkeit bei. Die Umstellungen zu Beginn und zum Ende der Sommerzeit stellen eine weitere Belastung für die Synchronisation der inneren Uhren dar.
Dem älteren Pinealorgan ist die ausreichende nächtliche Produktion von Melatonin nicht mehr möglich, auch wenn der Körper völliger Dunkelheit ausgesetzt wird. Dafür gibt es eine verständliche Erklärung. Die gesunde Zirbeldrüse wird sehr stark mit Blut versorgt und wie andere Areale mit Gefäßen ist sie prädestiniert, mit der Zeit unter Kalkablagerung zu leiden.
Melatoninmangel spiegelt sich auch in der gestörten Rhythmik der nachgeschalteten Hormonsysteme wider. Der Abfall der weiblichen Sexualhormone kann zum Faktor einer früh eintretenden Menopause werden. Es droht auch eine Abschwächung der Produktion des Wachstumshormons, Hormon der Lebenskraft, HGH genannt. Fehlendes Melatonin zeigt auch in der Leber Wirkung, wenn sie nachts nicht korrekt programmiert wird. Parallel dazu droht eine Insulinresistenz, die zu Diabetes führen kann. Auch der Harndrang bleibt nachts auf Tagesaktivität, wenn ohne Melatonin ein spezielles Antihormon, ADH, fehlt.
Mit zunehmendem Alter werden Schlafstörungen wahrscheinlich – und außerdem nimmt die Schlafqualität stetig ab. Einzelne Schlafphasen werden flacher und kürzer, und die ganz tiefen verschwinden unter Umständen völlig.
Melatonin beeinflusst nicht nur den Schlaf-Wach-Rhythmus. Auch alle weiteren sich zeitabhängig regelmäßig wiederholenden Aktivitäten des menschlichen Körpers werden vom Pinealorgan Zirbeldrüse aus mitgesteuert.
Besondere Folgen zeigt der Melatoninmangel direkt im Gehirn. Alle nächtlichen Reparaturmechanismen werden verringert. Das Abspeichern von Informationen ins Langzeitgedächtnis, das nachts erfolgt, ist erschwert. Das erhöht die Anfälligkeit für frühzeitige Demenz und neurodegenerative Prozesse.
Unter ärztlicher Kontrolle – denn es ist ein Hormonersatz – kann Melatonin therapeutisch eingesetzt werden. Empfohlen wird eine chronobiologisch berechnete Freisetzung. Bei diesem Trick wirkt etwa ein Drittel der Substanz rasch und behandelt sofort die Einschlafstörung. Der größte Teil der eingenommenen Dosierung ist quasi unter Verschluss und wird in langsamer Form aktiv, dafür mit einer Wirkung über sechs bis acht Stunden und schließt somit nicht gewünschtes frühzeitiges Erwachen weitgehend aus.
Melatonin und COVID-19
Beinahe zwei Dutzend neueste Studien zur Rolle von Melatonin im Überlebenskampf während einer Viruserkrankung, alle im ersten COVID-19-Jahr 2020 veröffentlicht, belegen: Es ist nicht übertrieben, dieses Molekül wegen seiner antiinflammatorischen und antioxidativen Eigenschaften zum „Principal Player“, zum Star des Immunsystems, zu erklären.
Die Überschriften dieser wissenschaftlichen, von Universitäten veröffentlichten Arbeiten werden nur von Fachleuten verstanden. Umso weniger verständlich ist es, dass sie so wenig Beachtung finden.
Beispiele, ins Deutsche übersetzt (Quelle: melatoninfacts.org):
„Melatonin ist signifikant mit dem Überleben von intubierten COVID-19-Patienten assoziiert.“ Ramlall V, Zucker J, Tatonetti N. Oktober 2020.