Als Stella klein war, wohnte sie mit ihren Eltern und ihrer größeren Schwester in einer alten Villa in Täby. Dem äußeren Anschein nach hatte die Familie keine Probleme, im Gegenteil, und Stella wuchs von früh an umgeben von den Kindern der Verwandten und Freunde ihrer Eltern auf. Ziemlich bald sagte man ihr nach, recht schwierig zu sein. Sie sei eingebildet und eigensinnig, schlage den Mädchen die Barbiepuppen auf den Kopf, wenn ihr nicht passe, was sie sagten oder taten, und war beim Bäumeklettern und Toben im Garten wilder als die Jungen. War Stella dabei, gab es fast immer Streit. Manche Familien fingen an, sie von sich fernzuhalten.
Stella war früh entwickelt, in jeder Beziehung. Schon mit zwölf hatte sie einen Freund. Zur gleichen Zeit wurde es in der Gegend üblich, Haschisch zu rauchen, wenn die Eltern weg waren und ihre Kinder Partys feierten. Stellas Eltern begriffen, daß sie etwas tun mußten. Sie überlegten hin und her, entschieden dann aber ziemlich rasch, daß ein Internat die beste Alternative sei, um mit Stellas Problemen zurechtzukommen. Am besten weit weg von der alten Clique, bis sie etwas älter war und selbst entscheiden konnte, was sie wirklich wollte.
Noch immer sprach man nur von »Stellas Problemen«, nie von denen »der Familie«. Nicht mit einer Silbe deuteten die Eltern an, daß sie vielleicht selbst Schwierigkeiten hatten.
Stella wurde unter großem Protest nach Lundsberg gebracht. Dort angekommen, verfrachtete man sie in die siebente Klasse, als beinahe Jüngste ihres Schülerheims, und ihre Zigaretten wurden so gut wie sofort beschlagnahmt. Stella sperrte sich wochenlang, entdeckte jedoch auch gegen ihren Willen, daß es gewisse Vorteile gab, im Internat zu leben. Es gab zum Beispiel nur eine Heimleiterin pro Haus, während zwischen 25 und 45 Schüler dort wohnten. Die Voraussetzungen, irgendwelchen Unfug zu verzapfen, ohne überführt zu werden, waren also bedeutend besser als zu Hause in der Familie, wo das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen 2:2 war und ständig die Gefahr drohte, erwischt zu werden.
Der andere offensichtliche Vorteil bestand darin, daß die Internatskinder für ihr Alter bedeutend weniger ausgefuchst waren als Stellas Kumpels in Täby, sie konnte sich also recht bald an die Spitze der Jüngeren setzen. Außerdem – und das war Stellas tief gewahrtes Geheimnis – war es ihr ganz angenehm, jetzt nicht noch mehr hinter sich bringen zu müssen. Sie hatte rauchen gelernt, war betrunken gewesen und hatte schon vor ihrem dreizehnten Geburtstag mächtig mit zwei Jungen rumgefummelt, und auch wenn sie lieber gestorben wäre als das zuzugeben, so war Stella doch ziemlich froh, daß sie in der rasend schnellen Entwicklung, die sie zu der ihren gemacht hatte, eine Pause einlegen konnte.
Um so größer war der Schock, als sie plötzlich erfuhr, was zu Hause passierte.
Allzuspät hatten die Eltern begriffen, welche Konsequenzen es hatte, den »Problemherd« von zu Hause zu entfernen. Als Stellas ältere Schwester zur gleichen Zeit auszog, war auf einmal Platz für ihre eigenen ungelösten Konflikte, die sich rasch in vollem Licht zeigten. Kein Problemkind war mehr zur Stelle, das sie verbinden konnte, und die Katastrophe war ganz schnell eine Tatsache.
Es begann damit, daß Stellas Vater nach Lundsberg kam und sagte, er werde nach Deutschland ziehen. Er nahm Stella mit auf eine Fahrt in seinem neuen Mercedes Benz Blue Metallic. Sie kurvten auf den holprigen kleinen Waldwegen umher, und er schien das Auto überhaupt nicht mehr stoppen zu wollen. Stella schlug vor auszusteigen, doch ihr Vater sagte, er ziehe es vor zu fahren – es gäbe doch viel Schönes in den Wäldern Värmlands zu entdecken. Stella hatte das Gefühl, er wage es nicht anzuhalten, so als wolle er nicht riskieren, zurückgehalten oder in eine Szene hineingezogen zu werden, die vielleicht mehr Zärtlichkeit von ihm verlangte, als er zu geben vermochte.
Dann kam es: Papa und Mama würden sich scheiden lassen.
Stella hörte zu. Papa könne nicht mehr, sagte er. Er sei gezwungen, Abstand zu Mama und dem ganzen »Theater«, wie er es nannte, zu bekommen. Mama gehe es nicht gut und ihm auch nicht, sagte er. Er würde zurückkommen, wenn es ihm besser ginge, allerspätestens zum Sommer hin.
Stella hörte zu. Er fragte, ob sie etwas wissen wolle, aber sie schüttelte nur den Kopf. Ihr fiel überhaupt nichts ein, was sie hätte sagen können.
Jedenfalls in dem Moment nicht.
Als der Sommer kam, war ihr Vater noch weiter weg, nach Hongkong gezogen.
4.
Konserven waren es, mit denen sich ihre Mutter umgeben hatte, als Stella an einem ihrer Heimfahrtswochenenden nach Hause kam. Konservenbüchsen standen in der Küche, auf dem Dielentisch und den ganzen Weg bis ins Schlafzimmer hoch. Manche waren geöffnet und leer; einige waren noch halbgefüllt mit ihrem jetzt schimmligen Inhalt, andere noch ungeöffnet. Bei ein paar Büchsen hatte sie offensichtlich versucht, sie aufzubekommen, aber es war ihr nicht gelungen. Einige hatte sie in einem Wutanfall in der schönen Diele herumgeschmissen. Das Glas von Großvaters Porträt war zerschlagen, ebenso die Graal-Vase, die immer auf dem Tischchen neben dem Sofa in der Diele gestanden hatte. Sie lag jetzt in tausend Stücken, zum Teil auf dem Sofa, zum Teil auf dem Boden.
Im Schlafzimmer lag Stellas Mutter, auch sie in tausend Stücken, obwohl es ihr von außen nicht anzusehen war. Sie blickte Stella unter halbgeschlossenen Lidern an, und ihr Mund verzerrte sich zu etwas, das ein Lächeln sein sollte. Stella stand in der Türöffnung, ihren Rucksack neben sich, gesund und mit roten Wangen trotz des Gestanks und der vielen Scherben überall.
»Willkommen zu Hause, meine Kleine«, sagte ihre Mutter heiser. »Willkommen zu Hause. Leider habe ich eine Magen-Darm-Grippe, aber das geht schon vorüber.«
Stella starrte sie mit klopfendem Herzen an. Bei ihrem letzten Besuch war ihre Mutter beinahe nüchtern gewesen, jedenfalls hatte sie das behauptet. Stellas Onkel war zur Stelle gewesen und hatte in der Küche für alle drei Eier gebraten, und dann hatte er Stella zum Bahnhof gefahren. Er hatte ihr über den Kopf gestrichen und gesagt, alles werde gut werden.
»Wo ist Onkel Sten?« brachte sie heraus.
Ihre Mutter reckte sich auf dem Bett und lachte lautlos.
»Der«, sagte sie lallend. »Weiß nicht. Wohl im Ausland oder so.«
Stella bemerkte, daß sie fror und ihr schlecht war.
»Und Jaqueline, wo ist die?« fragte sie.
»Deine Schwester«, sagte ihre Mutter, »hat wirklich alles getan, was möglich war. Genau, alles. Im Augenblick ist sie sicher tanzen, in irgendeiner ... Diskothek.«
Ihre Mutter war besoffen. Stella ging rückwärts aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, stolperte über eine Koservenbüchse, fing sich jedoch wieder, setzte sich auf die unterste Treppenstufe und fing an zu weinen.
Danach war sie unfähig aufzustehen.
Es begann zu dämmern. Aus dem Schlafzimmer über der Treppe erklang lautes Schnarchen. Ihre Mutter schlief, schlief den tiefen, traumlosen Schlaf des sich selbst freisprechenden Alkoholikers.
Stella hingegen war schmerzlich hellwach, außerstande sich zu rühren.
Als Stellas Onkel endlich zur Villa hinauskam, war es völlig dunkel. Er öffnete die Haustür, und ein Lichtstreifen fiel auf Stellas Gesicht. Sie hatte die ganze Zeit in derselben Stellung auf der Treppe gesessen, zusammengekauert, die Arme um die Knie geschlungen, wie ein Ungeborenes.
Zwei Tage später waren die Konservenbüchsen fort, das ganze Haus fleckenlos gereinigt von einem jungen polnischen Paar aus Sundbyberg und Stellas Mutter nach einem ›Sanatorium‹ in Dalarna abgereist. Stella selber stand, ihren Rucksack neben sich, wieder auf dem Bahnsteig, unter all den anderen Schülern, um mit dem 18.08-Zug zur Schule zurückzufahren.
»Wie war’s?« schrie jemand hinter ihr.
»Irre!« antwortete ein anderer. »Und bei dir?«
»Äh, nur Familientreffen und so’n Zeug«, schrie die erste Person wieder. »Verdammt reizend, aber nicht gerade sehr amüsant.«
Stella rührte sich nicht, nicht bevor Gunvor kam, ihr einen Klaps auf die Schulter gab, sie kurz und fest umarmte