„Nein, vorläufig bestimmt nicht! Ich fühle mich ja selbst noch nicht mal richtig erwachsen.“
Plötzlich erschrak ich. Die Vorstellung, ein Kind zu bekommen, machte mir gewaltige Angst.
Carmen nickte heftig. „Ja, erwachsen sollte man schon erst mal sein, ehe man sich entscheidet, ob man ein Kind möchte oder nicht. Was hältst du von der Temperaturmethode? Damit hab ich selbst vor einem halben Jahr angefangen.“
„Ich hab mich nie damit beschäftigt“, sagte ich. „Aber gelesen hab ich natürlich davon. Ist das nicht kompliziert und umständlich, jeden Tag um die gleiche Zeit die Temperatur zu messen?“ „Das schon.
Vor allem ist es keine absolut sichere Methode, falls der Zyklus nicht total regelmäßig abläuft. Sicher wär’s am besten, du würdest mal zu einer guten Frauenärztin gehen und mit ihr darüber reden. Ich kenne eine in Rosenheim, die sehr nett ist und sich auch Zeit nimmt. Soll ich dir die Adresse geben?“ Bisher hatte ich mich immer davor gedrückt, mich mit dem Thema Verhütung richtig auseinanderzusetzen, weil ich es so lästig und unromantisch fand. Nun begriff ich, daß es einfach mit dazugehört.
„Ja“, sagte ich. „Ich glaube, es wird Zeit, daß ich mich endlich darum kümmere. Und Jörn mag ich im Moment nicht damit belasten. Aber was soll ich jetzt machen, wenn meine Tage nicht kommen?“
Garmen musterte mich nachdenklich. „Wenn du nicht gleich zur Frauenärztin gehen magst, könntest du dir natürlich in der Apotheke einen Schwangerschaftstest kaufen“, meinte sie. „Dann wüßtest du in ein paar Stunden Bescheid. Allerdings frage ich mich, ob so ein Test immer ganz sicher ist. Teuer ist das Zeug außerdem. Geh zur Ärztin!“
Jetzt bekam ich wirklich Herzklopfen. „Und dann?“ sagte ich. „Falls ich nun wirklich schwanger bin?“
„Wart’s erst mal ab“, erwiderte sie nüchtern. „Dann werden wir schon eine Lösung finden. Es gibt für alles eine Lösung.“
Es tat mir gut, daß Carmen „wir“ sagte, obwohl ich mir keine Lösung vorstellen konnte. Keine außer Abtreibung, und an so etwas mochte ich gar nicht denken.
Sie legte den Arm um meine Schultern. „Mach dir keine Sorgen“, sagte sie. „Du hast wegen Jörn im letzten halben Jahr so viel durchgemacht; davon mußt du dich erst erholen. Nimm doch heute abend mal ein heißes Bad. Das wirkt entspannend; sicher verkrampfst du dich noch zusätzlich, weil du Angst hast. Vielleicht helfen auch Kräutertees. Kirsty weiß doch eine Menge über die Wirkung von Kräutern.“
„Ich mag nicht mit ihr darüber reden“, erwiderte ich. „Aber ich könnte ja mal in ihren Kräuterbüchern nachsehen.“
Gegen Abend, als Kirsty gerade in ihrer Werkstatt arbeitete, ging ich in ihr Zimmer und blätterte heimlich in einem alten Buch, das „Kräutersegen“ hieß. Da stand, daß bei stockender oder ausbleibender Regelblutung Kamillentee oder Ringelblumentee hilfreich wären. In einem anderen Buch wurde auch Hopfenaufguß empfohlen.
Im Küchenschrank fand ich Kamillen- und Ringelblumentee und kochte rasch von beidem eine Kanne voll. Den Tee brachte ich in mein Zimmer und ließ dann im Bad heißes Wasser in die Wanne laufen.
Ich hatte immer eine Abneigung gegen heiße Vollbäder gehabt und duschte lieber; doch diesmal stand ich es durch. Nach zehn Minuten stieg ich wieder aus dem Wasser, krebsrot und ganz benebelt vom Dampf. Als ich den Tee getrunken hatte, zog ich meine Stallklamotten an und ging nach Dreililien, wo ich meine Sorgen für eine Weile vergaß.
Dann ging ich früh schlafen. Am nächsten Morgen traf ich Carmen wie immer an der Bushaltestelle. Sie warf einen kurzen Blick auf mein Gesicht und sagte dann: »Alles in Ordnung, wie?“
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ja, zum Glück. Das Bad oder die Kräutertees oder beides zusammen haben schon in der Nacht gewirkt. Sicher hab’ ich mich wirklich nur verkrampft.“
Als wir nebeneinander im Bus saßen, fragte ich leise: „Du, Wer hat dich eigentlich aufgeklärt? Deine Eltern?“
Ein breites Lächeln ging über Carmens Gesicht. „Meine Eltern? Herrje, nein! Die bestimmt nicht. Sie sind total verklemmt. Hier auf dem Land ist das öfter so. Die Leute sind katholisch und haben ihre Kinder jahrhundertelang sittenstreng und prüde erzogen. Das merkt man heute noch. Für viele ist Sexualität noch immer etwas Sündiges, worüber man nicht spricht; und Sex vor der Ehe ist sowieso tabu. Meine Eltern sitzen zwar jeden Abend vor dem Fernseher und kriegen voll mit, daß es heutzutage sehr viel freier zugeht als in ihrer Jugend. Trotzdem denken sie höchstwahrscheinlich, ich wäre da eine rühmliche Ausnahme. Und zwar nicht deswegen, weil ich ihnen den Moralapostel Vorspielen würde, sondern ganz einfach, weil ihnen die Wahrheit unangenehm wäre. Deshalb reden sie sieh ein, ihre Tochter ist ein pausbäckiger kleiner Engel mit Flügeln, der unschuldsvoll unter lauter schwarzen Schafen herumschwebt.“
Ich mußte lachen. Carmen hatte manchmal eine wunderbar trockene Art, die Dinge beim Namen zu nennen.
„Der Sexualkundeunterricht in unserer Schule war auch nicht berühmt. Er wurde von unserem Biologielehrer abgehalten. Er war sehr unsicher und hat sich ängstlich an die ‚biologischen Funktionen‘ geklammert. Also hab ich eines Tages angefangen, mir in der Stadtbücherei in Rosenheim Bücher über Sexualität auszuleihen. Dabei hab ich natürlich auch ein paar miese Schwarten erwischt – wissenschaftlich verbrämte Pornografie, weißt du –, aber auch einiges, was mir wirklich etwas gebracht hat. Und als ich Roddy kennenlernte, bin ich zu dieser Ärztin gegangen und hab mit ihr über alles gesprochen. Sie hat mir unter anderem auch ein Buch über natürliche Geburtenregelung empfohlen. Das hab ich mir dann gekauft.“
Ich kam mir plötzlich unreif und unselbständig vor. Warum war ich nicht auch längst auf die Idee gekommen, mich durch Bücher zu informieren oder mit einer Frauenärztin zu reden?
„Und du?“ fragte Carmen. „Bist du von deinen Eltern aufgeklärt worden?“
„Von meiner Mutter“, sagte ich. „Sie hat das gut gemacht, finde ich. Sie ist nicht eines Tages dahergekommen und hat von Blumen und Vögeln geredet. Sie hat mir immer dann offen und ehrlich geantwortet, wenn ich eine Frage hatte – schon, als ich noch ziemlich klein war. Mein Vater hat sich da eher rausgehalten. Ich glaube, er ist ein bißchen verklemmt.“
„Ist schon komisch, wenn man so was plötzlich an den eigenen Eltern bemerkt, findest du nicht? Als Kind hält man sie ja für absolut überlegen und unfehlbar. Erst mit der Zeit lernt man sie richtig kennen und merkt, daß sie auch ihre Schwächen haben und sich mit allen möglichen Problemen herumschlagen, genau wie andere Leute. Und daß sie oft nicht mal richtig erwachsen sind.“
Diese Gespräche mit Carmen vertieften unsere Freundschaft. Bisher waren wir eben zusammen gewesen, wenn es sich gerade so ergab – auf dem Schulweg oder in Dreililien, wenn Carmen zufällig vorbeischaute. Jetzt trafen wir uns bewußt. Wir ritten gemeinsam aus, besuchten uns gegenseitig auf dem Bergerhof oder im Kavaliershäusl und machten Schulaufgaben miteinander.
Für mich war Carmen plötzlich zu einem wichtigen Teil meines Lebens geworden. Es war ähnlich wie mit einem Gegenstand, den man schon lange besitzt und dessen Vorhandensein man für selbstverständlich hält. Dann entdeckt man plötzlich seinen Wert und seine Schönheit und fängt an, ihn mit anderen Augen zu betrachten. So war das auch mit Carmen.
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