Die vierundzwanzig Mädchen und alle Lehrerinnen und Lehrer seufzten tief. Sie wagten sich fast nicht an den Baum heran – so andächtig waren sie bei seinem Anblick geworden. Vorsichtig erhoben sie sich und gingen hinüber, um die weißen Bänder und die roten Äpfel zu bewundern.
„Das ist ein Weihnachtsbaum“, sagte Frau Lindeman.
„Ein Weihnachtsbaum?“ flüsterten die Mädchen.
„Ja. Er soll uns die Geschenke des Himmels zeigen.“
Und dann brachte sie ihnen ein Weihnachtsbaumlied bei.
Der Christbaum ist der schönste Baum,
den wir auf Erden kennen,
wie lieblich blüht der Wunderbaum,
wenn seine Lichter brennen.
Denn sieh, in dieser Winternacht
ist einst der Herr geboren,
der Heiland, der uns selig macht,
hätt’ er den Himmel nicht gebracht,
wär’ alle Welt verloren.
Dann wurden mehrere Stunden lang Geschenke geöffnet, und weil alle vierundzwanzig Mädchen für die anderen dreiundzwanzig ein Geschenk gebastelt hatten, ließ sich ausrechnen, daß das insgesamt fünfhundertzweiundfünfzig Geschenke machte und dazu die für alle Lehrerinnen und Lehrer.
Es sollte das letzte Jahr sein, in dem auf dem Frimannslund-Hof in Daviken eine Mädchenschule existierte. Frau Lindeman hatte eine neue Stellung als Leiterin des Eugenienstifts in Kristiania gefunden, die Schule in Daviken sollte deshalb im Sommer 1850 geschlossen werden. Die Abreise der Mädchen wurde zu einer chaotischen Mischung aus Wehmut und Lachen.
Die „Constitutionen“ hatte im Hafen von Kristiansund angelegt. Jon Mjøen sah sich suchend in der Menschenmenge um, die an Land strömte. Im Hafen war es schwarz vor Menschen, Wiedersehensrufe ertönten, Koffer standen im Weg, und er konnte Augusta nicht finden. Doch da fiel ihm eine junge Frau um den Hals, fast wäre er vor Überraschung umgekippt. Sie weinte und lachte, drückte ihn an sich und lachte wieder. Überwältigt musterte er sie. Ein Mädchen mit einer Kuchentüte hatte ihn vor einem Jahr verlassen. Und jetzt? Es war nicht zu fassen! Ihre dunkelbraunen Haare waren sehr lang geworden und zu einem dicken Zopf geflochten, nicht mehr wie früher zu zweien, und der Zopf hing wie ein Kringel über ihren Nacken. Ihr rundes Gesicht strahlte jetzt erwachsene Ruhe aus, die schrägstehenden braunen Augen leuchteten unter ihren dunklen Brauen, ihr südländischer Teint machte sich stärker bemerkbar und wurde von der kleinen weißen Immortelle an ihrem Ohr noch betont.
„Kleines Knöpfelchen? Ist das wirklich mein kleines Knöpfelchen?“ fragte er. Er drückte sie an sich, und die Tränen strömten nur so.
7. Kapitel
Sie übernachteten in Kristiansund und fuhren am nächsten Tag mit einer gemieteten Kutsche weiter. Augusta erzählte von ihren Mitschülerinnen. Vor allem von einer gewissen Anna Uthus. Sie hatte Lady Rowena gespielt. Charlotte Middelthon war der Jude Isac von York gewesen, Marie Olsen seine schöne Tochter Rebecca. Sie selber hatte Ritter Erbelos alias Ivanhoe gegeben. Sie hatten das Stück gespielt, als alle Obstbäume blühten. „Ach, Vater! Es war wunderbar!“ rief sie. Er sah verstohlen zu ihr hinüber.
Sie machten einen Abstecher, um Pastor Bjørnson in Nesset zu besuchen. Sie würden zwei Tage dort verbringen müssen, sagte der Vater, denn der Pastor hatte Schwierigkeiten, und er hatte versprochen, ihm zu helfen. Augusta wollte wissen, was für Schwierigkeiten das waren, aber der Vater kannte noch nicht alle Einzelheiten. Auf jeden Fall war die Sache ernst. Für Pastor Bjørnson stand seine Stellung auf dem Spiel.
„Seine Stellung steht auf dem Spiel, und du weißt nicht, worum es geht?“ fragte Augusta.
Er drehte sich erstaunt zu ihr um. Neben ihm saß wirklich kein Kind im Wagen. Sondern eine junge Frau von fast sechzehn Jahren. Er mußte sich an diese neue Augusta gewöhnen. Charmant war sie. Hieß es auf Französisch nicht so?
„Doch, doch, das weiß ich natürlich, aber ich kenne den gesamten Handlungsablauf noch nicht... ich... ich meine, ich meine, Augusta, ich glaube nicht, daß es für deine Ohren paßt.“
Dazu schwieg sie erst einmal. Starrte die beiden treuen schwarzen glänzenden Pferderücken und die tanzenden Schwänze an. „Ist Bjørnstjerne zu Hause?“ fragte sie.
Der Vater war sichtlich erleichtert über den Themawechsel und sagte, nein, der besuche in Kristiania das Gymnasium. Eigentlich hatte sie das ja gewußt, aber sie hatte gedacht, er verbrächte die Sommerferien vielleicht zu Hause.
„Was soll ich also nicht wissen?“ fragte sie.
„Ich weiß nicht“, antwortete ihr Vater nach eine Weile. „Ich sehe ja, daß du jetzt groß bist. Und schön bist du geworden. Ich meine, bald mußt du in die Welt hinaus... aber auf der Schattenseite des Lebens passiert so allerlei, der Böse regiert, und es muß jedes Herz kränken, das zu hören.“
Mehr sagte er nicht.
Sie erkundigte sich nach zu Hause. Er erzählte von der Ernte und den Tieren, von ihren Geschwistern und allem, was ihm gerade einfiel. „Und wie geht es Mutter?“ fragte sie dann. Er zuckte zusammen. Seine Frau hatte er noch mit keinem Wort erwähnt.
Es war nicht bei den zehn Talern für den Bauern aus Aune geblieben. Er war danach noch häufiger von Leuten aufgesucht worden, denen Geld oder Silberbesteck fehlte, wenn Frau Mjøen zu Besuch gewesen war. Und ohne Umschweife sagten sie, es sei besser, wenn er gleich bezahlte. Wenn er dann um Beweise bat, sagten sie, naja, sie gingen eben davon aus, etwas Handfestes hatten sie nicht aufzuweisen. Er fragte, ob sie sich wirklich einbildeten, sie könnten zum Lensmann gehen und einen Diebstahl melden, und er würde den Verlust ersetzen? Sie antworteten wahrheitsgemäß, es so verstanden zu haben. Einige behaupteten auch, die Frau des Lensmanns auf frischer Tat ertappt zu haben. Sie drohten mit Klage, und dann würde die Gnädige wohl im Gefängnis landen? In zwei solchen Fällen hatte er bezahlt, obwohl er wußte – nach dem ersten Mal –, daß davon alles nur noch schlimmer wurde. Aber wenn er das Geld überreichte, war sein Gegenüber zuckersüß und sagte, ihm zuliebe würden sie die Sache auf sich beruhen lassen.
Was sollte er tun? Gebete hatten nichts geholfen. Er hatte für ihre Seele gebetet. Aber wenn sie nun gar nichts verbrochen hatte, was sollte der Herr da tun? Er befand sich in einer hoffnungslosen Lage, wo alles falsch war, egal, was er unternahm. Plötzlich überkam ihn der heftige Wunsch, das alles Augusta anzuvertrauen. Seine Last loszuwerden, sie um Rat zu fragen. Diese Möglichkeit erschien ihm fast als Geschenk des Himmels. Er hatte sich das ganze Jahr über solche Sorgen um sie gemacht. Aber der Herr hatte ihm die Tochter wohlerhalten zurückgegeben, und sie war an Körper und Geist gewachsen.
„Ist Mutter denn gesund und munter?“ fragte Augusta. „Im Dorf wird über deine Mutter geredet“, sagte er. „Und was wird geredet? Daß sie schimpft und tadelt und mit allem geizt?“ – „Ja, ja, das auch.“ – „Und was sagst du dazu? Sicher, daß sie vor ihrer eigenen Tür kehren sollen?“ – „Ja. Ja, das sage ich.“ – „Mutter macht es den Leuten eben nicht recht. Sie sagt, was sie denkt. Das gehört sich nicht für eine Dame. Wenn sie ein Mann wäre, wäre sie heute sicher Minister.“ – „Was? Mutter als Minister? Der Herr stehe mir bei!“ – „Ja? Warum nicht?“ – „Nein... nein... warum nicht?“ wiederholte er. Und während sie den langen Tingvollfjord entlangfuhren, erzählte er ihr alles.
Als er verstummte, schmiegte sie sich an ihn an und sagte: „Armer, armer Vater!“ Es fiel schwer, die Tränen zurückzuhalten. „Findest du es falsch von mir, daß ich es dir erzählt habe, Augusta?“ fragte er. „Nein“, sagte sie ohne nachzudenken. „Du hättest es auch schon früher sagen können. Jetzt kann ich mir überlegen, was ich antworten werde, wenn mir das irgendwer ins Gesicht sagt.“
Sie fuhren schweigend weiter. Es war ein gutes Gefühl, daß jetzt alles gesagt war. Eine neue Vertrautheit war entstanden. Er legte seine