Adoptivkind Michaela. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия: Michaela
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788711719572
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dann öffnete sie ihre Handtasche und zündete sich eine Zigarette an. Mit leichtem Ärger bemerkte sie dabei, daß ihre schlanken, gepflegten Hände zitterten.

      »Danke, Frau Beermann«, sagte sie, »ich brauche Sie nicht mehr.«

      Sie ließ sich in einen der hochlehnigen Gobelinsessel fallen. Sie fühlte sich müde und zerschlagen. Also war er doch wiedergekommen. Sie hätte es sich ja denken können, einen Menschen wie Till bekam man nie mehr los, wenn man einmal mit ihm in Berührung gekommen war.

      Sie spürte zu ihrem eigenen Entsetzen, daß sie ihn haßte. Sie haßte ihren eigenen Bruder, Till Torsten, wie sie nie einen anderen Menschen gehaßt hatte. Sie verabscheute ihn.

      Sie konnte sich heute nicht einmal mehr vorstellen, wie es geschehen konnte, daß sie lange Jahre hindurch immer wieder seinem Charme erlegen war. In der Diele standen sich Till Torsten und Erhard Schneider gegenüber. Der schmale, geschmeidige Till wirkte neben seinem schweren, wuchtigen Schwager wie ein Windhund, der um einen Bernhardiner herumschwänzelt.

      »Ich verstehe natürlich, daß du überrascht bist, mich zu sehen«, sagte er und zeigte mit einem kleinen Lächeln seine kräftigen weißen Zähne.

      »Durchaus nicht.«

      »Es ist eben so, Menschen wie ich, die kein Zuhause haben — das soll natürlich kein Vorwurf sein, lieber Erhard, versteh mich bitte nicht falsch — aber man möchte eben doch ein paar —«

      »Wieviel brauchst du?« fragte Erhard Schneider scharf.

      »Ich verstehe dich nicht.« Till Torsten hob mit gespieltem Erstaunen die Augenbrauen.

      »Wieviel?«

      »Ja, kannst du dir denn wirklich nicht vorstellen, daß ich einfach aus Sehnsucht nach euch …«

      »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen, Till. Bitte, hör auf damit. Du solltest schon wissen, daß diese Masche bei mir nicht zieht.«

      »Habt ihr euch gar keine Gedanken darüber gemacht, wo ich die letzten Jahre gesteckt habe?«

      »Wo denn schon. Wahrscheinlich hinter Gittern.«

      »Du bist sehr grausam«, sagte Till Torsten, sein glattes Gesicht verdüsterte sich.

      »Was willst du hier?«

      »Ich habe dir doch schon gesagt, ich möchte … Ich möchte Isabella Wiedersehen, schließlich ist sie ja meine Schwester. Man hat doch auch so etwas wie Familiensinn, nicht wahr?«

      »Du nicht, Till, gib dir keine Mühe, du wirst Isabella nicht sehen.«

      »Willst du mir das verbieten?«

      »Ja. Wenn du nicht in einer halben Minute aus dem Haus bist, werde ich —«

      »Was denn? Was wirst du?«

      »Die Polizei verständigen.«

      Till Torsten wechselte den Ton. »Natürlich, das kannst du, das steht dir zu. Du bist ja schließlich ein geachteter Staatsbürger, nicht wahr. Aber was versprichst du dir davon? Willst du Isabella von nun an an die Kette legen? Meinst du nicht auch, daß ich vielleicht eine Gelegenheit — nein, es braucht gar nicht hier im Hause zu sein — finden kann, um mich mit ihr in Verbindung zu setzen?«

      »Ich habe dich schon einmal gefragt, Till, wieviel brauchst du?«

      »Tausend.«

      »Du bist verrückt.«

      »Bitte, wie du willst!« Till Torsten gab sich den Anschein, als ob er sich zum Gehen wenden wollte. »Grüße meine Schwester von mir — oder auch nicht. Ganz wie du willst, Adieu.«

      »Till — wofür brauchst du das Geld?«

      Till Torsten sah seinem Schwager mit einem unverschämten Lächeln in die Augen. »Willst du das wirklich wissen?«

      »Ja. Du weißt, ich habe schon einmal Schwierigkeiten gehabt, als ich dir damals Geld geliehen habe, mit dem du einen sogenannten großen Coup starten wolltest. Du bist damit reingefallen, und ich habe eine Menge Unannehmlichkeiten deinetwegen gehabt. Erinnerst du dich noch?«

      »Na schön. Wenn es dich beruhigt … Ich möchte gern zum Wintersport nach Garmisch fahren. Findest du nicht auch, daß ich ein bißchen blaß und angegriffen aussehe? Na also. Die Gesundheit deines Schwagers sollte dir doch tausend Mark wert sein, oder?«

      »Gut. Ich werde dir einen Scheck geben.«

      »Scheck kann ich nicht brauchen, Schwager.«

      »Na, bitte. Dann bekommst du die tausend Mark bar — aber nur gegen Quittung. Als kurzfristiges Darlehen.«

      »Und du glaubst, daß ich so etwas unterschreibe?«

      »Ganz bestimmt. Sonst bekommst du das Geld nämlich nicht. Auf keinen Fall.«

      »Bildest du dir im Ernst ein, du würdest es von mir zurückkriegen?«

      »Nein.«

      »Wozu willst du dann die Quittung?«

      »Nur so. Also entweder du schreibst mir so einen Wisch aus, oder …«

      »Na schön. Wenn es dir Spaß macht. Ich sehe den Sinn zwar nicht ein, aber immerhin …« Till Torsten zog seine Brieftasche aus dem Jackett seines tadellos sitzenden dunkelgrauen Anzugs, fand einen leeren Zettel und kritzelte, über den Dielentisch gebeugt, ein paar Zeilen darauf. »Genügt es so?« fragte er und hielt dem Schwager die Quittung hin.

      »Danke.« Erhard Schneider nahm die Quittung entgegen, zählte aus seiner Brieftasche zehn Hundertmarkscheine. »Du hast Glück, daß ich das Geld überhaupt bei mir habe …«

      »Ich habe immer Glück, mein Lieber, das solltest du wissen.«

      »Um so besser für dich — wenn es dir so vorkommt.«

      Till Torsten knöpfte sich seinen dunkelblauen Wintermantel zu. »Also, schönen Dank, Schwager — und von mir aus keinen Gruß an Isabella.«

      »Paß auf, Till — ich will kein Versprechen von dir, ich weiß, daß dein Wort nichts gilt, aber ich warne dich. Wenn du noch einmal unser Haus betrittst oder wenn du ein einziges Mal versuchen solltest, dich hinter meinem Rücken mit Isabella in Verbindung zu setzen, dann —«

      »Was dann?«

      »Dann wirst du von mir nie wieder, unter gar keinen Umständen, auch nur einen einzigen Pfennig herausholen. Hast du mich verstanden?«

      »Du hast dich ungewöhnlich deutlich ausgedrückt, Schwager!« Till Torsten drückte sich den weichen Hut auf den Kopf, tippte mit einem spöttischen Lächeln an die Krempe, drehte sich um und ging aufreizend langsam zum Ausgang. Erhard Schneider folgte ihm bis zur Haustür, als die Tür hinter dem unangenehmen Gast ins Schloß gefallen war, drehte er den Schlüssel zweimal um und schob den Riegel vor.

      Dann erst wagte er aufzuatmen.

      Das »Rock ’n’ Roll« lag im Keller eines alten Schwabinger Hauses und wurde nur von Jugendlichen besucht. Es galt als ausgesprochenes Halbstarkenlokal, obwohl die jungen Leute, die hier verkehrten, sich selbst als Teenager und Twens bezeichneten.

      In den Akten der Polizei und in Zeitungsberichten war es schon öfters im Zusammenhang mit Raufereien und Messerstechereien erwähnt worden, aber im allgemeinen spielten sich die Vergnügungen ziemlich friedlich ab.

      Der Alkoholverbrauch war sehr gering. Die Mädchen tranken ausschließlich Coca-Cola und Fruchtsäfte, die Jungen Bier und nur wenige einen Schnaps zwischendurch — wenn sie überhaupt tranken, denn die meiste Zeit verbrachten sie auf der Tanzfläche.

      Sie waren gekommen, sich auszutoben, und sie tobten sich aus. Die Musikbox, auf größtmögliche Lautstärke eingestellt, war unentwegt in Betrieb. Platten mit Elvis Presley, Peter Kraus, Paul Anka wurden bevorzugt, und den jungen Leuten rann der Schweiß über die Stirn, während sie ihre Glieder wild verrenkten.

      Die Einrichtung war mehr als bescheiden.