Frost deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und setzte sich wieder hin. Payne nahm ebenfalls Platz und musterte Frost eingehend. Er hatte ein paar Dinge gesehen und gehört, die ihn neugierig gemacht hatten, sehr sogar. Ihre beinahe übermenschlich anmutende Fähigkeit, Schlösser innerhalb von Sekunden zu knacken – mit nur einer Hand.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Sie haben auf dem Weg hierher das Bewusstsein verloren«, antwortete Frost unumwunden. »Sie haben mir nicht erzählt, dass sie derart schwer verletzt sind. Schusswunde? Sah jedenfalls grässlich aus.«
»Holzpfahl«, gab er zurück, worauf Frost die Augenbrauen hob. »Fragen Sie besser nicht.«
Helen brachte den Tee, und für einen Moment geriet das Gespräch ins Stocken. Frost schlürfte ihren Tee und lehnte sich im Sessel zurück. »Wollen Sie mir dafür erzählen, warum Sie ihre Frau verlassen haben?«
Payne druckste herum. »Haben Sie sie bereits kontaktiert?« Zeit dafür hätte sie mehr als genug gehabt.
»Noch nicht. Ich dachte, es wäre besser, damit zu warten, bis Sie wieder einigermaßen auf den Beinen sind.«
Er hatte seine Frau nicht verlassen, doch er korrigierte Frost nicht. »Warum wollen Sie das wissen? Sie haben mich gefunden, das sollte reichen, oder?«
»Sagen wir, ich bin neugierig.« Frost deutete ein Lächeln an. »Sie interessieren mich, Pinkerton. Es muss hart für Sie gewesen sein, so lange von Ihrer Frau getrennt gewesen zu sein. Ein wortwörtlicher Ozean zwischen Eheleuten. Vor allem, wenn Kinder im Spiel sind.«
Reflexartig griff Payne an sein Jackett. Er hielt inne, als er das Funkeln in Frosts grauen Augen sah. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Sie hatte das Lichtbild gesehen.
Und tatsächlich, Frost legte das zerknitterte Foto zwischen sich und Payne auf den Schreibtisch. »Sie ist wunderhübsch, Ihre Tochter. Wie heißt sie?«
»Annabella«, presste er heraus und nahm das Lichtbild in die Hand. »Sie hatten kein Recht, es an sich zu nehmen.«
»Es fiel auf den Boden, als Helen und ich Sie verarzten mussten«, rechtfertigte sie sich. »Ich frage mich, warum Ihre Frau sie nicht erwähnt hat.«
Payne stieß langsam den Atem aus und betrachtete lange das Bild von Annabella. Frost überließ ihn seinen Gedanken und schwieg. »Meine Tochter ist vor zwei Monaten spurlos verschwunden«, sagte er schließlich. »Niemand konnte uns sagen, was mit ihr passiert ist. Scotland Yard hat keinerlei Anhaltspunkte und unternahm nichts, um sie zu finden.«
»Da haben Sie beschlossen, sich selbst auf die Suche nach ihr zu machen. Als Pinkerton sind sie schließlich bestens dafür gerüstet.« Frost hatte den Punkt haargenau getroffen, und Payne nickte. »Und? Haben Sie eine heiße Spur?«
»Nein.« Das Wort fühlte sich klebrig an in seinem Mund. Die heiße Spur, die er geglaubt hatte zu haben, hatte sich im Nichts aufgelöst. Der Russe blieb wie immer unantastbar. Überhaupt hatte er die Suche an einem einzigen Fetzen Papier aufgehängt, den er im Zimmer von Annabella gefunden hatte. In diesem Moment war er sich gar nicht mehr sicher, was er sich dabei gedacht hatte.
Frost musterte ihn lange. »Ich bin mir sicher, dass Sie ihre Tochter finden werden, Mr. Payne. Allerdings verstehe ich nicht ganz, warum Sie Ihre Frau nicht eingeweiht haben.«
»Meine Arbeit zieht unweigerlich Verbrecher an. Ich wollte nicht, dass Cecilia in Gefahr gerät.« Und das entsprach sogar der Wahrheit.
Frost nickte und nippte an ihrem Tee.
»Was ist das für ein Buch?«, fragte er nach einer Weile, um von sich abzulenken und das Thema zu wechseln. Es schmerzte ihn, über Annabella zu sprechen.
»Das I Ging.«
Payne hob die Augenbrauen. »Sie glauben an den Quatsch?« Er hatte einige Male in New York gesehen, wie chinesische Einwanderer dieses seltsame Buch konsultierten. Angeblich konnte man damit die Zukunft voraussagen. Er hatte Frost nicht als jemanden eingeschätzt, der derart an solchen Hokuspokus glaubte. Aber er hatte sie gestern Abend mit den Chinesen gesehen. Offensichtlich kannte sie die lokale Gemeinschaft sehr gut.
Frost zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Die Chinesen benutzen es seit Jahrtausenden. Man schnappt ein paar Dinge auf, wenn man unter ihnen aufwächst.«
Payne nahm endlich seinen Tee zur Hand. Es war ein stark aufgebrühter Schwarztee mit einem Hauch von Bergamotte. Die Milch ließ er weg. Er bevorzugte Tee und Kaffee schwarz.
Frost beugte sich nach vorne und verschränkte die Hände unter dem Kinn. »Mr. Payne, der eigentliche Grund, warum ich Ihre Frau noch nicht kontaktiert habe, ist, dass ich sie nicht in Gefahr bringen möchte. Wie hoch ist die Chance, dass man Sie immer noch verfolgt?«
Payne runzelte die Stirn. So genau hatte er darüber noch gar nicht nachgedacht. »Ich hoffe, die beiden von gestern waren die letzten.« Das hoffte er wirklich. Er wusste immer noch nicht, warum man ihm derart penetrant nach dem Leben trachtete. Dass er dem Russen zu nahegekommen war, glaubte er irgendwie nicht so recht. Allem Anschein nach hatte der Sammler nichts mit dem Folianten zu tun – oder vielleicht doch?
»Hm. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Mrs. Payne ist eine sehr nette Dame, die ich ungern einer Gefahr aussetzen mag, wenn ich ihr ihren Ehemann abliefere. Außerdem will ich vermeiden, dass ich später selbst noch unerwarteten Besuch bekomme. Ich hatte bei Weitem genug Action die letzten paar Tage.«
Payne verstand. Eigentlich hatte er gedacht, nur seine Landsleute im Westen seien schießwütig und neigten zu Übertreibungen, aber die Engländer standen ihnen in nichts nach.
Er wünschte sich, seinen Tee mit etwas Stärkerem versetzen zu können.
»Rufen Sie meine Frau an, Miss Frost.«
12.
Das Erste, was Mrs. Payne zu ihrem Mann sagte, war eine schallende Ohrfeige.
Nachdem Frost sie angerufen hatte, verging eine quälend lange Stunde, bis Mrs. Payne die Agentur betrat. Sie arbeitete in der Sternwarte in Greenwich und hatte die Fähre bis zum Tower genommen. Frost und Payne hatten während des Wartens nur wenige Worte miteinander gewechselt. Frost war tief in Gedanken versunken und malte sich aus, was geschehen würde, sobald Madame Yueh sie zu sich zitierte. Auch Michael tauchte immer wieder vor ihrem inneren Auge auf. Wie hatte sie nur so blind sein können?
Frost musterte den Pinkerton verstohlen. Für einen Amerikaner war er ganz ansehnlich, fand sie. Die dunklen Augen und die braunen Haare verliehen ihm etwas Mediterranes. Er war groß und hatte breite Schultern. Außerdem hatte sie einiges davon gesehen, was sich unter seinem Hemd befand, als Helen und sie ihn verarztet hatten. Helen war mindestens dreimal rot angelaufen während der Prozedur.
Für einen Amerikaner war er ganz sympathisch. Es passierte nicht oft, dass man in London auf einen Pinkerton traf. Ob sie ihm helfen sollte, seine Tochter zu finden? Mrs. Payne hatte offensichtlich genug Geld, um sie für ihre Dienste zu bezahlen.
In diesem Moment klingelte die Glocke über der Tür, und Mrs. Payne rauschte in die Agentur. Frost und Payne erhoben sich fast gleichzeitig – Payne kam etwas schwerfälliger aus dem Stuhl und hielt sich ächzend die Seite –, als Mrs. Payne auch schon die Hand erhob.
Das Klatschen durchbrach die Stille wie ein platzender Ballon. Payne schaute sichtlich erschrocken auf seine Frau herab, sie wiederum funkelte ihn aus wütenden Augen an.
»Mrs. Payne, wie schön, dass Sie so schnell herkommen konnten.« Frost bemühte sich um einen akzentuiert gelassenen Ton und lächelte. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
»Wo war er?«, presste Mrs. Payne hervor. Ihre Stimme zitterte vor unterdrückten Gefühlen. Frost war beeindruckt, wie sehr sie sich darum bemühte, Haltung zu wahren. Aber sie hörte sehr wohl auch den