Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel. Luzia Pfyl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luzia Pfyl
Издательство: Bookwire
Серия: Frost & Payne - Die gesamte Staffel
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958344112
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Payne sich von ihm hatte anheuern lassen.

      Payne runzelte die Stirn. »Klingt, als wäre sie jemand, den der Sammler anwerben würde. Ich sehe mir die Sache mal an. Was ist mit Scotland Yard?«

      »Sind bereits vor Ort, doch Mr. Bingham wünscht, dass wir uns darum kümmern. Wir haben die besseren Ressourcen, wie Sie bestimmt wissen.« Newman machte eine kurze Pause und sah Payne dabei scharf an. »Sehen Sie sich die Sache an, Payne. Und seien Sie vorsichtig.«

      Payne nickte und tippte sich zum Gruß an den Hutrand. Die Sache wurde interessant. Endlich schien der Russe in greifbare Nähe zu kommen. Aber nur beinahe. Er musste sich beeilen.

      Draußen auf der Straße schlug ihm die Kälte entgegen. Dichter Schneefall hüllte die Stadt ein. Die Straßenlaternen vermochten die Dunkelheit kaum zu verdrängen. In der Nähe knisterte und blitzte das blaue Licht einer vorbeifahrenden Straßenbahn.

      Mit dem Hut tief in die Stirn gezogen, eilte Payne an den wenigen Passanten, die bei dem Wetter noch unterwegs waren, vorbei zur Station. Belgravia lag von hier nur einen Katzensprung entfernt. Er würde sich das Haus ansehen und diesem Bingham ein paar Fragen stellen. Und dann konnte er sich hoffentlich der Flasche Whisky widmen, die in seiner Bleibe auf ihn wartete.

      Im White Stag war es rappelvoll. In einer Ecke spielte eine Truppe Musiker Seemannsweisen, und jeder einzelne Gast im Pub schien lauthals mitzusingen. Payne saß in der hintersten Ecke am Fenster und starrte hinaus auf die verschneite Straße. Die Musik und der Gesang prallten an ihm ab, als befände er sich in einem abgeschotteten Raum. Das Lichtbild des Mädchens lag neben dem halb leeren Bierglas auf dem Tisch.

      Im Haus von Mr. Bingham hatte er kaum verwertbare Spuren gefunden. Eine umgestoßene Lampe, eine leere Vitrine und Mr. Binghams riesige Beule, mehr nicht. Allerdings hatte Bingham ihm ein paar interessante Dinge über die Diebin erzählt. Sie wurde Schlüsselmacherin genannt, weil sie angeblich jede Tür öffnen konnte. Wie sie das machte, hatte er ihm nicht sagen können. Doch weil sein Butler ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sie wenige Stunden zuvor um das Haus geschlichen war und sogar unter falschem Vorwand hatte eindringen wollen, hatte er das Schloss an der Hintertür auswechseln lassen.

      Das hatte ihr den Fluchtweg abgeschnitten. Trotzdem hatte sie mit dem Buch fliehen können, wie Binghams Beule bewies. Payne hatte gehofft, mehr zu erfahren. Doch eine im Untergrund bekannte Diebin sollte nicht so schwer zu finden sein. Er würde morgen einigen Leuten ein paar Fragen stellen müssen. Für heute hatte er allerdings die Nase voll, und er wollte sich nur noch betrinken.

      Auf der gegenüberliegenden Straßenseite rannte ein kleines Mädchen durch den Schnee. Die Kapuze fiel ihm in den Nacken und enthüllte braune Locken. Payne richtete sich auf, und sein Herz machte einen Sprung. Annabella?

      Doch als das Mädchen sich umdrehte und auf seine Eltern wartete, die soeben in Paynes Blickfeld erschienen, sackte er zurück in den Stuhl. Dummkopf, schalt er sich und nahm einen kräftigen Schluck Bier. Jetzt sah er schon in jedem Mädchen mit braunen Haaren seine Tochter. Wieder starrte er auf das Lichtbild. Es war zerknittert und abgegriffen, doch Annabellas Gesicht strahlte noch immer genauso wie an dem Tag, als sie das Bild gemacht hatten. Payne war gerade frisch aus New York eingetroffen, und Cecilia hatte darauf bestanden, dass sie zum Lichtgraphen gingen. Er hatte seine Familie zwei Jahre lang nicht gesehen. Das war vor einem halben Jahr gewesen – bevor Annabella spurlos verschwand und er auf eigene Faust nach ihr zu suchen begann.

      Payne wünschte sich, dass Cecilia niemals die Stelle in London angenommen hätte. Sie hätte New York nicht verlassen sollen, dann wäre Annabella heute noch hier. Er hätte früher nach London reisen sollen, dann hätte er sie beschützen können.

      Er seufzte und schaute abermals aus dem Fenster. Die Stimme in seinem Kopf machte ihm bittere Vorwürfe. Als hätte er die Sache in den letzten zwei Monaten nicht schon hundert Mal hin- und hergedreht. Er war vor sechs Monaten in London eingetroffen und hatte seine Familie endlich wiedergesehen. Und dann war Annabella eines Tages wie vom Erdboden verschluckt. Ihr Bett war an jenem Morgen leer gewesen, doch niemand hatte gesehen, wie sie das Haus verlassen hatte. Sie hatten die ganze Nachbarschaft und die umliegenden Parks, in denen sie oft spazieren gegangen waren, abgesucht. Selbst die Polizei hatte ihnen nicht helfen können. Von Annabella fehlte jede Spur. Cecilia hatte sich in die Arbeit gestürzt und Payne mit seiner Verzweiflung alleine gelassen.

      Dieses verdammte London, fluchte Payne innerlich. Aber er würde nicht aufgeben, bis er Annabella gefunden hatte. Er war zwar kein Pinkerton mehr, doch seine Arbeit hatte er deswegen nicht verlernt.

      Er steckte das Lichtbild nach einem letzten liebevollen Blick zurück in die Innentasche seiner Weste und leerte das Glas. Dann winkte er der Kellnerin.

      »Noch ein Bier, love?«, fragte diese, als sie Paynes Glas an sich nahm.

      »Ich könnte etwas Stärkeres vertragen.«

      »Harter Tag?« In ihrer Stimme schwang ein Hauch Mitleid mit. Sie bedachte ihn mit einem Lächeln.

      »Kann man so sagen«, gab Payne zurück und legte einen Geldschein auf den klebrigen Tisch. »Bring am besten die ganze Flasche.« Für das Geld bekam er etwas Besseres als die Pulle billigen Whiskys, die oben in seinem Zimmer stand.

      Die Kellnerin spitzte die Lippen und nahm wortlos den Schein entgegen. Sie schlängelte sich zwischen den vollbesetzten Tischen hindurch. Eine Gruppe Männer drängte sich in der Mitte des Schankraumes zusammen. Jemand grölte etwas, und gleich darauf wurde der ganze Raum von einem hellen Blitz erleuchtet. Payne kniff geblendet die Augen zusammen und fluchte.

      »Vielen Dank, meine Herren! Wunderbar!«, rief ein Mann, der soeben unter dem schwarzen Tuch eines transportablen Lichtbildapparats hervorkam. Die Gruppe löste sich auf, und die Musik fing wieder an zu spielen.

      Die Kellnerin kam zurück und stellte ein frisches Glas sowie eine Flasche Scotch vor Payne auf den Tisch.

      »Was war das eben?«, fragte Payne und deutete mit dem Kinn auf den Lichtbildgraphen, der dabei war, seine Sachen zusammenzupacken.

      »Ach, die Dartstruppe hat anscheinend ein Turnier gewonnen. Der Reporter ist vom Evening Standard.«

      Payne murrte und schenkte sich den Whisky ein. Zeit, sein schlechtes Gewissen zu betäuben. Zum Glück hatte er es nicht weit bis zu seiner Wohnung. Sie lag genau über dem Pub.

      Als er die stockdunkle Treppe hinaufwankte, war es längst nach Mitternacht. Er war, wie so oft, der letzte Gast gewesen. Er brauchte eine Weile, bis er das Schlüsselloch zu seiner Wohnung fand. In der Flasche, die er in der Hand hielt, befand sich ein kleiner Rest Whisky. Er schaffte es gerade noch bis zum Bett, dann sackte er zusammen.

      In den frühen Morgenstunden wurde die Old Castle Street in Whitechapel unsanft aus dem Schlaf gerissen. Im Haus des White Stag-Pubs ereignete sich eine heftige Explosion. Alle Fenster barsten. Scherben und die Reste des ersten Stockwerkes regneten auf die Straße vor dem Pub.

      Als Payne zu sich kam, hatte er das Gefühl, als pressten mehrere Tonnen auf seinen Körper. Alles tat ihm weh. Ein stechendes Pfeifen lag in seinen Ohren. Er blinzelte und wollte sich auf die Seite drehen, doch das Gewicht drückte ihn nieder. Rauch drang in seine Lungen, und er bekam einen Hustenanfall.

      »Was zum …« Wieder musste er husten, und ein scharfer Schmerz durchfuhr seinen Leib. Um ihn herum lagen verkohlter Schutt, umgestürzte Möbel und zerbröselter Putz. Ein helles, loderndes Licht und Hitze umhüllten ihn. Dann erkannte er, warum er sich nicht bewegen konnte. Er lag unter einem Holzbalken und haufenweise Geröll begraben.

      Ächzend stemmte er sich auf den Ellbogen und versuchte, den Balken von sich zu schieben. Ein stechender Schmerz fuhr ihm in die Rippen. Er schrie auf. Schwer atmend ließ er sich zurück auf den Boden fallen, starrte an die verkohlte Decke hinauf.

      Was war passiert? Warum lag er unter Schutt begraben? Wieder musste er husten. Feuer. Das Haus brannte. Durch das Klingeln in seinen Ohren konnte er nun das Bimmeln und Heulen der Feuerwehr