Er saugte an der kalten Pfeife und blätterte in der Akte über Dahlström. Dahlström hatte sich einzelne kleinere Vergehen zuschulden kommen lassen, nie jedoch etwas Schwerwiegendes. Sein Freund dagegen, Bengt Johnsson, hatte an die zwanzig Vorstrafen für Vergehen verschiedenster Art vorzuweisen. Zumeist handelte es sich um Diebstahl und leichte Körperverletzung.
Emma Winarve ließ sich auf dem abgenutzten Sofa im Lehrerzimmer nieder. Sie schloss beide Hände um den Kaffeebecher, um sie zu wärmen. Es zog in dem alten Holzhaus, in dem die Kyrkschule von Roma untergebracht war. Auf dem Becher stand »Die beste Mama der Welt«. Was ja nun wirklich nicht zutraf. Eine Mama, die ihren Mann betrogen hatte und seit einem halben Jahr ihre Kinder vernachlässigte, weil sie mit ihren Gedanken woanders war. Kurz vor vierzig, und ebenso kurz davor, die Kontrolle zu verlieren.
Die Uhr an der Wand zeigte halb zehn. Um den Tisch standen bereits die Kollegen plaudernd zusammen. Der Kaffeeduft hatte sich für immer in Vorhängen, Büchern, Papieren, Ordnern und der schmutzig gelben Tapete festgesetzt. Emma brachte es nicht über sich, der Unterhaltung zu folgen, sie schaute aus dem Fenster. Die Eichen hatten ihr Laub noch nicht verloren. Sie waren in ständiger Bewegung und reagierten auf jeden Windhauch. Im Garten hinter der Schule drängten die grauen, zottigen Schafe sich beim Grasen aneinander. Ihre Kiefer bewegten sich unaufhörlich. Die Steinkirche, die bereits achthundert Jahre auf dem Buckel hatte, stand da, wo sie immer schon gestanden hatte.
Alles ging seinen gewohnten Gang, egal, welche Stürme in einem Menschen auch toben mochten. Es schien unvorstellbar, dass Emma scheinbar unberührt dort sitzen und an dem ewigen Kaffee nippen konnte, ohne dass irgendwem etwas auffiel. Sie hatte das Gefühl, dass in ihr ein psychologischer Krieg stattfand. Ihr Leben ging zum Teufel, aber um sie herum saßen oder standen die Kollegen, vertieft in leise Gespräche, mit beherrschten Bewegungen, Blickkontakt. Als wäre nichts passiert.
Vor Emmas innerem Auge lief in raschen Szenen ein Film ab: der Geburtstag ihrer Tochter Sara, an dem Emma am liebsten nur geweint hätte, sie und Johan, die in ein Hotelbett fielen, die forschenden Blicke ihrer Schwiegermutter, Filips Cellokonzert, das sie einfach vergessen hatte, Olles Gesicht, wenn sie ihn ein weiteres Mal abwies.
Sie hatte sich in eine unmögliche Lage gebracht.
Ein halbes Jahr zuvor war ihr der Mann begegnet, durch den sich alles verändert hatte. Sie hatten sich im Zusammenhang mit den Ermittlungen des vergangenen Sommers kennen gelernt, als Emmas beste Freundin ermordet worden war und Emma fast das gleiche Schicksal ereilt hätte.
Johan war ihr über den Weg gelaufen, und sie hatte nicht an ihm vorbeigehen können. Er war ganz anders als alle Männer, die sie bisher erlebt hatte, er war so lebendig und intensiv bei allem, was er tat. Und sie hätte nie für möglich gehalten, dass sie mit irgendwem so unbeschwert lachen konnte oder dass sie selbst so witzig war, geradezu geistreich sogar. Er ließ sie Seiten an sich entdecken, von deren Vorhandensein sie keine Ahnung gehabt hatte.
Bald schon war sie bis über beide Ohren verliebt gewesen, und ehe sie sich’s versah, hatte er vollständig von ihr Besitz ergriffen. Wenn sie sich liebten, war sie von einer Sinnlichkeit erfüllt, wie sie sie nie zuvor erlebt hatte. Bei ihm war sie ganz und gar entspannt. Zum ersten Mal dachte sie nicht daran, wie sie aussah oder wie er ihre Leistungen im Bett beurteilte.
Sich hundertprozentig im Jetzt zu befinden, das hatte sie vorher nur bei den Geburten ihrer Kinder erlebt.
Trotzdem hatte sie sich schließlich gegen Johan entschieden. Den Kindern zuliebe war sie bei Olle geblieben. Als das Drama mit dem Serienmörder zu Ende gegangen und Emma im Kreise ihrer Familie im Krankenhaus zu sich gekommen war, hatte sie eingesehen, dass ihr die Kraft zu einer Scheidung fehlte, auch wenn sie spürte, dass Johan die große Liebe ihres Lebens war. Die Geborgenheit wog schwerer, zumindest in diesem Moment. In tiefer Verzweiflung hatte sie sich von Johan getrennt.
Dann war sie mit ihrer Familie nach Griechenland gefahren, um Distanz zu allem herzustellen. Aber so einfach war es nicht gewesen.
Nach ihrer Rückkehr hatte Johan ihr geschrieben. Zuerst hatte sie den Brief ungelesen wegwerfen wollen, aber dann hatte die Neugier gesiegt. Das bereute Emma nun.
Es wäre besser für alle Beteiligten gewesen, wenn sie keine einzige Zeile gelesen hätte.
Karin Jacobsson und Thomas Wittberg spazierten nach der Besprechung zum Östercentrum. Die Fußgängerzone zwischen den Geschäften war nahezu menschenleer. Wind und Regen taten ihre Wirkung. Die beiden liefen zur Passage beim Domus-Supermarkt und schüttelten innerhalb der Glastüren die ärgste Nässe ab.
Das Einkaufszentrum war recht unansehnlich: H & M, ein Schmuckgeschäft, zwei Frisiersalons, ein Ökoladen, ein schwarzes Brett. Der Supermarkt mit seinen Kassenreihen, dann eine Bäckerei, ein Tabakladen mit Lottoannahme, ein Schlüsseldienst. Ganz am Ende die Toilette, die Altglascontainer und der Ausgang zum Parkplatz. Auf den Bänken im Gang sammelten sich bei schlechtem Wetter Trinker sowie müde Rentner und Eltern mit kleinen Kindern, die sich einen Moment ausruhen mussten.
Die Trinker brauchten somit nicht draußen in der Kälte zu sitzen, und solange sie hier nicht tranken, ließen die Warenhauswachen sie in Ruhe. Die meisten hatten aber trotzdem in Hosentaschen oder Plastiktüten ihre Flachmänner parat.
Zwei Penner, die Karin erkannte, saßen am Ausgang auf einer Bank; sie waren schmutzig, unrasiert und ziemlich zerlumpt. Der jüngere von beiden hatte den Kopf an die Wand gelehnt und musterte gleichgültig die Vorübergehenden. Schwarze Lederjacke und verschlissene Turnschuhe. Der ältere Mann in der blauen Tuchjacke und der Pudelmütze saß vorgebeugt da und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Schmutzige Haarsträhnen lugten unter der Mütze hervor.
Karin stellte sich und Wittberg vor, obwohl klar war, dass die beiden Männer sehr gut wussten, wer sie waren.
»Wir haben nichts verbrochen, wir sitzen einfach nur hier.«
Der Mann mit der Mütze sah sie aus Augen an, die nicht mehr gerade blicken konnten. Und dabei ist es noch nicht elf, dachte Karin.
»Ganz ruhig«, mahnte Wittberg. »Wir möchten bloß ein paar Fragen stellen.«
Er zog ein Foto aus der Tasche.
»Kennt ihr diesen Mann?«
Der jüngere von beiden glotzte weiter vor sich hin. Er würdigte Karin und Wittberg keines Blickes. Der andere starrte das Bild an.
»Ja, scheiße. Das ist doch Blitz.«
»Wie gut kennst du ihn?«
»Er gehört zur Clique. Lungert meistens hier oder bei der Bushaltestelle rum. Schon seit zwanzig Jahren. Natürlich kenn ich Blitz, den kennen doch alle. Hömma, Arne, weißt du, wer Blitz ist?«
Er versetzte seinem Kumpel einen Rippenstoß und hielt ihm das Foto hin.
»Scheißfrage. Den kennen ja wohl alle.«
Der, der Arne hieß, hatte Pupillen wie Pfefferkörner. Karin fragte sich, was er wohl eingeworfen hatte.
»Wann habt ihr ihn zuletzt gesehen?«, fragte Wittberg.
»Was hat er angestellt?«
»Nichts. Wir wollen wissen, wann ihr ihn zuletzt gesehen habt.«
»Ja, wann war das, zum Teufel. Was ist heute für ein Tag, Montag?«
Karin nickte. Der Mann fuhr sich mit nikotingelben Fingern über das Kinn.
»Ich habe ihn seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen, aber manchmal verschwindet er eben.«
Karin wandte sich an den anderen.
»Und du?«
Der glotzte noch immer ins Leere. Sein Gesicht sieht unter Schmutzschicht und Bartstoppeln eigentlich recht gut aus, fand sie. Er wirkte trotzig und zeigte deutlich, dass er mit der Polizei nichts zu tun haben wollte. Karin unterdrückte den Drang, vor seiner Nase mit den Armen herumzufuchteln, um ihm eine Reaktion zu entlocken.
»Weiß