Das unheimliche Haus des Herrn Pasternak. Rosemarie Eichinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rosemarie Eichinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783903081833
Скачать книгу
Laufe der Jahre verließ der alte Mann das Haus immer seltener und die Leute begannen zu tuscheln. Die Pasternaks lebten ja schon viel länger an diesem Ort als irgendjemand sonst und waren doch immer für sich geblieben. Man wusste im Grunde gar nichts über diese Leute. Alles Mögliche konnte hinter den alten, brüchigen Mauern vorgehen. Alles Mögliche und Unmögliche. Die Pasternaks waren einfach nicht wie die anderen Menschen. So viel stand fest.

      Wenn es nämlich ein Gewitter gab, donnerte und blitzte es über dem alten Haus besonders heftig. Wenn es stürmte, klapperten die Schindeln auf dem Dach so laut, als würde der Teufel daran rütteln. Und auch wenn die Sonne schien, lag das Haus immer im Schatten eines der großen knorrigen Bäume, sodass kein Strahl die klammen Mauern zu wärmen vermochte.

      So kam es, dass die Menschen von einem Fluch zu sprechen begannen, einem Fluch von immerwährendem Unglück und beklemmender Dunkelheit, der den letzten Pasternak an sein Haus fesselte.

      Ein Fluch, der erst gebrochen werden konnte, wenn irgendwann ein Mensch mutig genug wäre, dem Geheimnis des Hauses und seines unheimlichen Bewohners auf den Grund zu gehen.

image

      Eine Katze, die nicht hört

      Seit einem Jahr wohnte ein Mädchen in der neuen Welt, die der alte Mann manchmal durch seine Vorhänge betrachtete. Sie hieß Anabel, war klein und hatte dürre Beine mit stets aufgeschürften Knien. Sie war wie die meisten Kinder in ihrem Alter. Sie wollte Spaß haben und die spannendsten Abenteuer erleben, die man nur erleben konnte. Also würde sie einmal Piratin werden, wenn sie groß genug war. Piratin und nichts anderes! Als Piratin kam man schließlich herum in der Welt, konnte mit Delfinen um die Wette schwimmen, mit Affen auf Palmen klettern und im dichtesten Dschungel nach verschollenen Schätzen suchen.

      Eine Augenklappe besaß sie schon. Es fehlte nur noch ein Papagei, der auf ihrer Schulter hockte, und schon konnte es losgehen. Sie würde die Ozeane befahren, die Welt würde unter ihren Füßen schwanken und die Gischt in ihr Gesicht spritzen. Nach Salzwasser und Abenteuer würde das Leben schmecken, ganz so, wie sich das für ein Mädchen gehörte.

      Noch stand sie allerdings vor dem Spiegel und stellte sich alles nur vor. In ihrem Zimmer in dem kleinen Haus, ganz oben unter dem Dach, am Ende der schmalen Holztreppe, wo jede Stufe hohl klang, wenn man auf sie trat.

      „Ganz nah beim Himmel, wie die Prinzessin in den Wolken“, hatte ihre Mutter gesagt.

      „Wie der Kapitän eines Luftschiffes“, hatte Anabel erwidert.

      Für Prinzessinnen hatte das Mädchen nicht viel übrig. So viele Regeln und ausladende Rüschenkleider, mit denen man ohnehin in jedem Gestrüpp hängen blieb. Da war sie lieber Piratin. Frei und stark, mit Papagei, Augenklappe und einem großen Schiff mit sieben Segeln. Und wenn sie irgendwann einmal doch eine Krone wollte, nahm sie sich einfach eine. Denn einer Piratin schrieb niemand vor, wie sie sich kleiden sollte. Sie konnte tragen, was sie mochte, wären es auch eine Augenklappe und eine Krone. Eine Piratin konnte tun und lassen, was sie wollte. Um die Welt segeln, mit Gold gefüllte Truhen ausgraben und jeden Tag Kuchen zum Frühstück essen.

      Als Anabel vor einem Jahr hierhergezogen war, plagte sie großes Heimweh nach ihrem alten Zuhause. Also hatte sie so getan, als wäre die Straße eine Insel, das Haus ein Palast und der Garten ein zu erforschender Urwald. Stück für Stück hatte sie ihr neues Reich erobert und die Umgebung kennengelernt, die anderen Kinder und die Leute, die in der Straße wohnten.

      Alle bis auf den Mann, der gleich gegenüber lebte. Von ihrem Fenster aus sah sie auf sein Haus. An manchen Tagen schien es zu ächzen unter dem Gewicht des buckligen Daches, die Fassade wirkte dann rissiger, der Anstrich verblichener, die Fensterläden schiefer als an anderen Tagen. Es würde Anabel im Traum nicht einfallen hinüberzugehen, zu dem lauernden Haus in dem verwilderten Garten. Zumindest nicht ohne triftigen Grund.

      Anabels triftiger Grund hatte ein rostrotes Fell und Tigerstreifen und schlüpfte eines Tages durch das Kellerfenster in das gruselige Nachbarhaus. Es war ganz früh am Morgen und eigentlich schlief die ganze Straße noch. Nur Anabel sah alles mit an und bekam es mit der Angst zu tun.

      Und alles wegen einer Nuss. Einer ganz gewöhnlichen Haselnuss. Ein Eichhörnchen hatte sie fallen lassen. Also rollte die Nuss über das Dach, polternd über Anabels Kopf hinweg. Sie kollerte über die Dachschräge, am Ende jeder Schindel sprang sie ein wenig in die Höhe, plumpste schließlich in die Dachrinne und schlitterte weiter. Da konnte man gar nicht anders als aufzuwachen. Auch wenn es noch nicht einmal fünf Uhr morgens an einem Sonntag im Spätsommer war.

      Anabel folgte mit ihrem Blick dem Geräusch der scheppernden Nuss. Schließlich stand sie auf und schaute aus dem Fenster. Es dauerte ein wenig, bis sie alles scharf sah. Die hölzernen Zäune, die Gärten und die Nachbarhäuser, die darin kauerten, die Fensterläden noch geschlossen. Selbst der Morgennebel lag noch leicht wie eine Daunendecke auf dem nassen Gras.

      Anabel gähnte und rieb sich die Augen. Dann sah sie es. Ihr blieb fast das Herz stehen. Sie hätte am liebsten das Fenster aufgerissen und geschrien, auch wenn das ganz und gar vergebens gewesen wäre. Oskar war längst im Kellerfenster des Hauses verschwunden. Und selbst wenn nicht, hätte er sowieso nicht auf Anabel gehört. Ein Kater hört aus Prinzip nicht auf das, was seine Menschen sagen.

image

      Im Grunde wäre das ja nichts Besonderes, denn Katzen streunen herum. Das liegt in ihrer Natur. Aber ausgerechnet in dieses Haus musste das dumme Tier hineinkriechen, in das Haus jenes Mannes, von dem man kaum mehr als einen schemenhaften Umriss kannte. Das konnte Anabel einfach nicht verstehen. Von all den Häusern musste es jenes von Herrn Pasternak sein.

      Dabei sah es alles andere als einladend aus, so wenig wie der Name auf dem fleckigen Messingschild. Phileas Pasternak stand dort, die Buchstaben gerade noch zu erahnen, die Schrift kunstvoll verschnörkelt, als stammte sie aus einer anderen Zeit.

      Das Klingelschild war ganz rostig, so rostig, dass es bei der kleinsten Berührung abzufallen drohte. Niemand würde freiwillig auf den Knopf drücken. Der Zaun rund um das Grundstück hatte Lücken wie ein kaputtes Gebiss. Der Putz an der Villa bröckelte stellenweise von der Fassade, einige Fensterläden hingen schief in den Angeln, zwei Fenster waren überhaupt vernagelt. Alt und mitgenommen schaute das Haus aus. Müde, als könnte es sich nur mehr mit Mühe aufrecht halten. Dabei war es bestimmt einmal schön gewesen, mit seinen Giebeln und Erkern. Aber das musste lange zurückliegen, im vergangenen Jahrhundert, als Anabel noch gar nicht geboren war.

      Ein unheimliches Haus, dachte Anabel. Ein unheimliches Haus mit einem unheimlichen Bewohner, alt und verbittert, dessen Gesicht niemand beschreiben konnte. Nicht mehr als ein Schatten hinter zerschlissenen Vorhängen, eine Ahnung nur, oder eine schwerfällige Bewegung.

      Von Anabels Freunden hatte niemand diesen Pasternak je gesehen, nicht einmal diejenigen, die hier schon viel länger lebten als sie. Selbst die Erwachsenen zuckten lediglich mit den Schultern, wenn die Sprache auf den seltsamen Nachbarn kam. Sie redeten dann über andere Dinge, über das Wetter oder wie schön die Blumen wieder blühten. Es erweckte den Anschein, als ob ihnen das Thema unangenehm wäre, so unangenehm, dass sie nicht daran rühren mochten.

      Für Kinder beginnt ein Abenteuer allerdings manchmal erst dort, wo es für Erwachsene endet, an einem klapprigen Zaun um ein verwunschenes Grundstück mit einem geheimnisvollen Bewohner. Je weniger man nämlich über einen Menschen weiß, desto absonderlicher werden die Geschichten, die man sich über diesen Menschen erzählt. Weil die Fantasie nun einmal so viel interessantere Bilder malt als die Wirklichkeit.

      Vielleicht litt der Mann ja an einer ansteckenden Krankheit, eine, bei der man Pusteln und Beulen auf der Haut bekam wie eine warzige Kröte. Und niemand, der aussah wie eine warzige Kröte, würde gern aus dem Haus gehen.

      Oder er war am Ende gar kein richtiger Mann, sondern nur noch der Geist eines Mannes, weil in alten Häusern oft Geister wohnen.

      Er