Werner hatte schon immer verstanden, wie er mich nehmen und »führen« muss, wann es welche Dosierung braucht. Er ist ein Mensch der Klarheit, er sagt, was er denkt, und bleibt dennoch immer empathisch. Er sagt dir nicht das, was du hören willst, sondern das, was Sache ist. Das kann manchmal hart und unbequem sein, ist für den sportlichen Prozess und die persönliche Entwicklung aber unausweichlich. Eine gewisse Nähe aufzubauen und trotzdem die nötige Distanz zu bewahren ist in einer sensiblen Sportart wie dem Skispringen besonders knifflig. Sein diesbezügliches Fingerspitzengefühl, gepaart mit einem enormen Weitblick ist für mich besonders beeindruckend. Im persönlichen Gespräch zeigt er ungeahnte Möglichkeiten auf und findet individuelle Konzepte für eine kraftvolle Umsetzung des auf den ersten Blick nicht Machbaren.
Es steht außer Frage, dass ich von Werners Führungspersönlichkeit und seinem Coaching sportlich wie menschlich extrem profitiert habe. Er war eine absolute Schlüsselfigur in meiner Karriere – umso dankbarer bin ich, dass wir seit 2019 wieder gemeinsam an einem Strang ziehen und sich somit der Kreis unserer Zusammenarbeit schließt. Die Entwicklung bleibt im Vordergrund, es ist ein ständiger Prozess, auf wie auch abseits der Schanze, der mir immer wieder neue Zugänge eröffnet und mich in allen Lebenslagen wachsen lässt. Damals wie heute ist es ein spannender und sehr erfüllender Weg, der von einer großen gegenseitigen Wertschätzung und jeder Menge wertvollen Erfahrungen geprägt ist. Ich bin davon überzeugt, dass weitere spannende Erfahrungen folgen werden und schätze mich absolut glücklich, Werner als Weggefährten an meiner Seite zu wissen.
PROLOG
AM ZIEL UND DOCH AM START
Der letzte Springer ist am Ablauf: Nur der polnische Routinier Stefan Hula kann den Olympiasieg von Andi Wellinger noch verhindern. »Er wird doch nicht gerade heute noch so einen guten Sprung wie im ersten Durchgang auf die Schanze zaubern?«, geht es mir durch den Kopf. Dazu bräuchte er erst einmal guten Aufwind … Die zwei Norweger knapp gescheitert, der überragende Kamil Stoch zu kurz. Hula? Er geht in die Spur, hebt ab – ich starre gebannt auf den kleinen Monitor, der provisorisch für die Trainerbelegschaft aufgestellt wurde. Die grüne Linie im Blick. Ist er hoch genug in der Luft? Wird er die Markierung überspringen? Knapp davor! Was sagen die Windpunkte? Das kann eigentlich nicht reichen. Gebanntes Warten auf die Punktevergabe.
Andi Wellinger ist Olympiasieger!
Er hat es geschafft. Wir haben es geschafft. Ein Traum wird wahr. Andi reißt im Zielraum die Arme hoch. Seine Kollegen fallen ihm um den Hals. Tränen fließen.
Mein Assistent Jens Deimel und ich liegen uns in den Armen. Trainerkollegen gratulieren – von herzlich bis förmlich. Die Polen ziehen enttäuscht davon. Alexander Stöckl, Cheftrainer der Norweger und ein langjähriger Freund und Weggefährte, und ich strahlen über das ganze Gesicht. Gold für Deutschland, Silber und Bronze für Norwegen auf der Normalschanze bei den Olympischen Spielen 2018 in Pyeongchang.
Das Ganze läuft in meinem Kopf tatsächlich ab wie in einem Film. Zeitraffer. Von den Emotionen überwältigt führt man mechanisch Aktivitäten aus, nimmt weitere Gratulationen entgegen, möchte am liebsten baden im Glück, und gleichzeitig kommt die nüchterne Stimme der Vernunft: Geh runter zum Athleten. Bedanke dich bei allen Mitstreitern und Kollegen. Bediene die Presse. Erste Interviews.
Der Weg vom Trainerturm in der Nähe des Schanzentisches hinunter zum Auslauf ist weit. Zu den Athleten, zu den Medien, zu den Kollegen, zu allen Verantwortlichen. Eine schmale Treppe neben dem Aufsprunghügel führt uns zum Epizentrum des Glückes.
Es ist kalt – minus 15 Grad Celsius, dazu ein beißender Wind. 15 Minuten nach Mitternacht Ortszeit. Knapp drei Stunden sind vergangen seit der Startnummer 1. Viele windbedingte Unterbrechungen kennzeichneten den Bewerb. Der zweite Wertungsdurchgang: ein Tanz auf der Rasierklinge. Die Windgeschwindigkeit darf vier Meter pro Sekunde nicht überschreiten, sonst ist die Sicherheit der Sportler nicht mehr gewährleistet. Ein Geduldsspiel. Der vierfache Olympiasieger Simon Ammann, eingehüllt in eine Wolldecke, musste mehrmals wieder vom Startbalken zurück und wird zum Synonym für die extremen Bedingungen.
Wir, Team Deutschland, lagen nach dem ersten Durchgang mit unseren vier Springern auf den Plätzen vier, fünf, sieben und acht. Eine fantastische Mannschaftsleistung, aber bei Olympia zählen in der Öffentlichkeit nur die Medaillenränge. Was wäre bei einem Abbruch passiert? Wie hätten die Verantwortlichen im Skiverband und im DOSB (Deutscher Olympischer Sportbund), die Presse und die Fans reagiert? Wären wir getröstet oder zerrissen worden? Wir werden es nie erfahren.
In den Pausen am Trainerturm hatte ich Zeit gehabt, meine Presseaussagen im Falle eines Abbruchs gedanklich vorzubereiten. Ich bin seit zehn Jahren im Amt. Ich kenne die Mechanismen. Die kritischen Fragen. Die Zuspitzung auf Hero oder Zero! Gedanklich war ich voller Trotz. Ich hätte versucht, mich offensiv zu befreien und wäre nicht müde geworden zu betonen, wie stolz ich auf das Team und die Sportler sei …
Unser Servicemann Erik Simon holt mich auf der Treppe am Weg nach unten ein und fällt mir um den Hals. Er hat Tränen in den Augen. Olympiasieger! Wir sind Olympiasieger! Die ganze Spannung fällt ab. Wie oft waren wir bis drei Uhr morgens bei nicht nur einem Bier gesessen. Hatten unsere Wunden geleckt nach herben Enttäuschungen. Ideen geschmiedet, wie wir der Konkurrenz eine Nasenspitze voraus sein könnten.
Der Servicemann der Norweger kommt dazu. Zwei Medaillen für seine Jungs. Wir gratulieren uns, lachen, juchzen und stapfen die Treppe hinunter. Viele andere haben auch hart gearbeitet. Vielleicht noch härter. Wer weiß das schon. Aber sie gingen leer aus. Heute ist unser Tag!
»Jetzt haben wir wieder für ein Jahr einen Arbeitsplatz«, rutscht es mir heraus. Nicht dass ich grundsätzlich das Gefühl hatte, mein Arbeitsplatz sei gefährdet (und der von unserem Servicemann schon gar nicht), aber die Intensität des Abends hatte mich doch ans Limit gebracht. Viel hatte ich schon erlebt in meiner Trainerlaufbahn, aber nie zuvor wurde mir das Spannungsfeld von bitterer Niederlage bis hin zur freudvollen Ekstase so bewusst wie an diesem Abend: Gewonnen hat heute eindeutig der aktuell beste Springer. Andi Wellinger war nicht nur an diesem Tag die Nummer eins auf dieser Schanze, er hatte auch schon am Vortag die Qualifikation gewonnen und im Training mehrmals seine Extraklasse unter Beweis gestellt. Doch wäre das Springen nach dem ersten Durchgang abgebrochen worden, stünde er als Nummer fünf auf der Ergebnisliste, und Hula hätte gejubelt.
Immer noch auf der Treppe auf dem Weg nach unten bleibe ich kurz stehen, starre in den kalten koreanischen Abendhimmel und versuche, das Erlebte zu ordnen. Alles kommt hoch in diesem einen Moment. Zu viel, um es an Ort und Stelle zu verarbeiten. Vor der Presse brauche ich aber einen klaren Kopf. Meine Aussagen werden mehrfach gesendet, zitiert und gehen durch die Sportwelt. Ich verspüre einerseits eine tiefe Dankbarkeit angesichts des überwältigenden Ereignisses, andererseits frage ich mich: Willst du das wirklich noch weitere vier Jahre mitmachen? Willst du dich bei den nächsten Olympischen Spielen wieder diesem Spannungsbogen aussetzen? Wir haben viel gewonnen in den vergangenen zehn Jahren, seit ich die Leitung des deutschen Springerteams übernommen habe: Einzelweltcupsiege, Teamweltcupsiege, Gesamtweltcupsieg, Nationencupsieg, Weltmeister, Skiflugweltmeister, Teamolympiasieg. Wir haben auch viele Niederlagen eingesteckt. Medaillen um ein paar Zehntel verpasst, Verletzungen, Enttäuschungen. Manchmal selbst verschuldet, manchmal unglücklich.
Ich habe Erfahrung im Bewältigen dieses Spannungsbogens, und trotzdem ist der heutige Tag anders. Der erste Olympiasieg eines deutschen Skispringers seit 24 Jahren verändert meine Wahrnehmung von Sieg und Niederlage. Einerseits bin ich am Ziel meiner Träume: der Einzelsieg beim Weltsportereignis Olympia. Andererseits macht sich in diesem so bedeutungsvollen Moment eine Leere breit.
Peking 2022 ist weit weg. Zu weit für mich.
Was für ein verrückter