Ich war gerade erst ein Jahr im Weltcup unterwegs gewesen, und das mit dem kleinen und feinen Schweizer Team, und trotzdem fühle ich mich als gestandener Trainer, der weiß, wovon er spricht. Zu viele Gedanken habe ich in den letzten Jahren für meine Sportart gewälzt, sodass es bei Gott schwierig ist, mir Fachfragen zu stellen, auf die ich gar keine Antwort weiß. Man lernt nie aus, aber ich traue mir zu, dem deutschen System Impulse zu verleihen.
Plötzlich bin ich aber nicht mehr nur für mich und ein paar Athleten verantwortlich, sondern für ein ganzes System. Ich kann nicht mehr aus der zweiten Reihe kritisieren, was der Cheftrainer oder der Sportdirektor aus meiner Sicht gerade verabsäumen, sondern ich muss Rede und Antwort stehen und Verantwortung übernehmen. Die Schweiz war gerade einmal Vorstufe für das Abenteuer Deutschland, aber eine sehr wertvolle. Ich lernte die Bedeutung und die Mechanismen von Medienarbeit, ich konnte als Führungskraft in einem kleinen Team meine Kooperationsbereitschaft und Führungsqualitäten ausprobieren und verbessern. War man als Jugendtrainer in Stams Technik-, Athletiktrainer, Filmer, Psychologe und Ansprechpartner für medizinische Fragen in einer Person, so konnten und mussten diese Aufgaben jetzt verteilt werden.
Bei der Zusammenstellung des Trainerteams spielt Horst Hüttel, dem ich hundertprozentig vertraue, eine entscheidende Rolle. Ihn zeichnet ein gutes Gespür für Menschen und deren Arbeitsweisen aus. Wir diskutieren die verschiedenen Rollen und Anforderungen durch. Mit Stefan Horngacher gewinnen wir einen B-Kader-Trainer, der schon vorher erfolgreich im deutschen System gearbeitet hat und hohe Fachkompetenz aufweist. Stefan ist ebenfalls Österreicher, wir sind zufällig gleich alt und kennen uns seit vielen Jahren. Gerade in einem System, in dem die Kadertrainer wieder mehr an Bedeutung gewinnen sollen, ist es enorm wichtig, dass die Ebenen sich vertrauen und gut kooperieren. Dazu braucht es nicht nur fachliche Übereinstimmung, sondern auch einen Draht auf der persönlichen, menschlichen Ebene.
In einem großen System wie in Deutschland kann man nicht vom ersten Tag an erwarten, dass alle in die gleiche Richtung arbeiten. Zu komplex aufgebaut und von zu unterschiedlichen Interessen durchzogen präsentiert sich die Landschaft derer, die in irgendeiner Form mit dem Skispringen zu tun haben. Manche sind mit einfachen Gesprächen zu überzeugen, viele gehen in Wartestellung, und einige sind schwer bis gar nicht belehrbar. Umso wichtiger ist es, ein funktionierendes Kernteam zu formen, das zusammenhält und sich gut abstimmt.
Ich bezeichne den Teamaufbau gerne als Zwiebelprinzip. Man kann es von zwei Seiten betrachten, von innen nach außen oder von außen nach innen. In unserem Falle gehen wir es von innen nach außen an. Mit einem funktionierenden Kern versuchen wir, Blatt für Blatt dazuzugeben beziehungsweise wachsen zu lassen, um dann irgendwann eine große Zwiebel zu sein. Dazu müssen natürlich Erfolge her, aber Erfolge entstehen nur im Team. Um in einem riesigen Team Erfolg zu haben, muss erst das »kleine« Team überzeugen, dann erst kann man nach und nach weitere »Jünger« dazugewinnen.
Thomas Pfüller, der Generalsekretär und Sportdirektor des deutschen Verbandes, hatte mich in den Tagen vor der Sitzung mit der Versprechung gelockt, ich könne mir mein Team komplett frei zusammenstellen. Kurze Zeit später ruft er mich jedoch an und teilt mir mit, dass ich doch unbedingt die Physiotherapeutin im Team halten soll. Erstaunt erwidere ich, dass ich hier andere Ideen habe, und begründe ihm den erforderlichen Schritt. Er lässt aber nicht locker, weist mich noch einmal freundlich, aber bestimmt auf den erforderlichen Umstand hin und bittet mich, der Dame doch eine Chance zu geben.
Der Hintergrund ist schnell gefunden. Carolin Otterbein ist bei der Bundeswehr, und die Bundeswehr stellt Arbeitskräfte für den Skiverband frei. Eine unfassbar tolle Initiative, die die Budgets der manchmal klammen Fachverbände entlastet. Aber musste ich mir wirklich aus finanziellen Gründen eine Mitarbeiterin aufzwingen lassen? Mit einer derartigen Konstellation war ich in meinem Leben noch nie konfrontiert gewesen. Ich wollte das beste Team zusammenstellen und mich nicht mit politischen Konstellationen und finanziellen Zwängen auseinandersetzen müssen.
Kurzentschlossen reise ich nach Oberstdorf und suche das Gespräch mit Carolin Otterbein. Ich kannte Caro nur oberflächlich, verabrede mich mit ihr in einem Restaurant und fühle ihr auf den Zahn. Kurz skizziere ich offen und ehrlich meine Anforderungen und Bedenken und gebe ihr dann die Chance, ihre Stärken zu präsentieren. Dabei spüre ich eine unglaubliche Leidenschaft und bekomme auch das Gefühl, dass hier eine sehr hohe Fachkompetenz vorliegt. Meine Befürchtungen sind entkräftet. Ich habe schon oft mit Leuten zusammengearbeitet, die ihr letztes Hemd für den Sport geben, aber Caro toppt diese Eindrücke. Der Tennismanager Ion Ţiriac hat einmal über die Tennisspielerin Monica Seles gesagt: »Sie würde über Glasscherben robben, um ein Match zu gewinnen.«
Bei Caro habe ich ebenfalls das Gefühl, sie würde alles tun, um weiterhin dem Team zu dienen und mit ihm um den Globus zu reisen.
Offen ist noch die Position des Technikers. Ein Mann, der sich um das sensible Material der Athleten kümmert und dem sie voll vertrauen. Handwerkliches Geschick ist gefragt, aber auch Sachverstand und hohe Sozialkompetenz. Der Techniker ist im Wachscontainer der erste, der die Sportler nach ihren Sprungversuchen empfängt, und auch der letzte, der sie vor erneuten Sprüngen wieder zum Anlauf verabschiedet. Diese Position ist schwer zu besetzen, denn Leute, die diese Fähigkeiten vereinen, sind rar am »Markt«. Mir war in den vergangenen Jahren in Deutschland ein Springer aufgefallen, der immer die schnellste Anfahrtsgeschwindigkeit hatte und auch punktuell gut sprang. Roland Audenrieth aus Garmisch-Partenkirchen hatte seine Karriere inzwischen beendet. Horst ist von dieser Idee sofort begeistert und führt die Gespräche. Roland ist sehr überrascht, aber gleichzeitig so angetan, dass er seinen soliden Job kündigt und neugierig und mit Begeisterung in sein altes Metier in neuer Funktion zurückkehrt.
Mein Kernteam ist komplett, und der erste Trainingskurs kann kommen.
OSK AR HANDOW
Nachhaltigkeit ist ein Begriff, der ursprünglich aus der Forstwirtschaft stammt. Er besagt, dass nicht mehr Holz entnommen wird, als jeweils nachwachsen kann. Übertragen gesagt: Dass nicht mehr Ressourcen ver(sch)wendet werden, als tatsächlich vorhanden sind. Nun ist dies mittlerweile ein weitverbreiteter und leider auch oftmals inhaltsleerer Begriff. Jedes Unternehmen möchte nachhaltig agieren. Und doch werden in vielen Fällen kurzfristige Erfolge zulasten künftiger Generationen gesucht, Ressourcen nicht verantwortungsvoll genutzt.
Auch im Sport ist es oftmals möglich, kurzfristig mit einem Team Erfolg zu haben. Das geht aber nicht selten zulasten der Substanz. Aktuell erfolgreich zu sein und parallel dazu junge Athleten und ein ganzes System weiterzuentwickeln, damit dieses auch in Zukunft erfolgreich sein kann, ist die viel größere Herausforderung.
Werner hat diesen Weg gewählt. Und dies nicht nur, weil er 2008 ein entwicklungsbedürftiges Team und ein ebensolches System übernahm, sondern in meiner Wahrnehmung aus Überzeugung, dass nur dies ein sinnvoller Umgang mit der übernommenen Verantwortung ist.
Ein ähnliches Denken würde ich mir bei vielen Führungskräften wünschen, die ich in meiner Arbeit für Konzerne kennenlernen darf.
Im Alltag tendieren wir gerne dazu, den erstbesten gefundenen Lösungsweg einzuschlagen. Das ist menschlich und hilft uns oft, schneller voranzukommen. Aber der erste Impuls ist gerade in komplexen Situationen nicht immer der passendste. Dann braucht es eine ausführlichere Analyse der Ausgangssituation sowie ein Verstehen des Gesamtsystems. Erst wenn mir hier Zusammenhänge und Wirkeinflüsse bewusst sind, kann ich die richtigen Ansatzpunkte finden.
Habe ich dann Maßnahmen definiert, geht es darum, die Betroffenen mit auf die Reise zu nehmen. Am Berg gilt, dass man niemanden zurücklässt. In der Führung erklimmen Verantwortliche den Gipfel aber oftmals allein, da sie das Team auf dem Weg verloren haben.
Gerade in eingefahrenen Systemen braucht es zunächst das Wecken von Veränderungsbewusstsein. Dies kann ich durch Druck oder durch eine motivierende Vision erreichen. Wichtig ist aber immer, dass als Argument für Veränderungen nicht Versäumnisse und Fehler der Vergangenheit bemüht werden. Denn diejenigen, die seit Jahren im System sind (und dies vielleicht sogar an verantwortlicher